Schweiz
Migration

Die Schlepper sind zurück und nehmen Tote in Kauf – auch in der Schweiz

Die Schleppermafia ist zurück und nimmt Todesopfer in Kauf: So ist die Lage in der Schweiz

Schlepper haben Hochkonjunktur. Stark betroffen ist Österreich, wo erst kürzlich drei Migranten starben, weil ein Menschenschmuggler der Polizei davonraste und einen Unfall verursachte. Auch durch die Schweiz gibt es lebensgefährliche Transporte.
04.10.2022, 10:43
Kari Kälin / ch media
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Die Szene ereignet sich am 2. August am Grenzübergang Bietingen/Thayngen. Eine Person hört Klopfgeräusche in einem Lastwagen, alarmiert die Schweizer Grenzwächter. Diese öffnen die Ladefläche und entdecken zwei junge, dehydrierte Männer aus Afghanistan, die medizinische Hilfe benötigen. Der Lastwagen fuhr von Serbien bis nach Deutschland. Der serbische Chauffeur wurde befragt und wieder freigelassen. Die deutsche Bundespolizei übernahm den Fall und ermittelt.

Der Schlepper durchbrach mit dem weissen Kastenwagen in Österreich eine Polizeikontrolle. Drei Menschen starben.
Der Schlepper durchbrach mit dem weissen Kastenwagen in Österreich eine Polizeikontrolle. Drei Menschen starben.Bild: APA

Flüchtlinge, die versteckt in Lastwagen durch die Schweiz geschleust werden? Bis 2014 registrierten die Schweizer Behörden bloss einen Fall. Bei einer Warenkontrolle in Chiasso fanden die Grenzwächter zwei Menschen. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit laut einem Bericht des Bundesamtes für Polizei (Fedpol) gross, dass mehr Lastwagen mit versteckten Migranten durch die Schweiz gerollt sind oder rollen.

Es können auch Lieferwagen sein. Anfang September hielt die Kantonspolizei Nidwalden auf der Autobahn A2 einen Lieferwagen mit italienischem Nummernschild an. Die Kontrolle sei einzig dem «Instinkt der Beamten» zu verdanken gewesen, sagt Senad Sakic, Chef der Kriminalpolizei Nidwalden. Im Fahrzeug befanden sich 23 Personen aus Afghanistan, Indien, Syrien und Bangladesch – zusammengepfercht auf engstem Raum ohne Fenster. «Menschenunwürdig und psychisch und physisch extrem belastend», sagte Sakic.

Die zwei aktuellen Beispiele werfen ein Schlaglicht auf ein Phänomen, das sich nach dem Abflauen der Coronapandemie wieder verstärkt manifestiert: Die illegale Migration nach Europa, sei es auf der Westbalkan- oder der Mittelmeerroute. Bis Ende August stellten Schweizer Grenzwächter 23'755 illegale Aufenthalte fest, deutlich mehr als im ganzen letzten Jahr. Und sie registrierte 281 mutmassliche Schlepper. Die reale Zahl ist höher. Denn Schleuser, die von den kantonalen Polizeien gestoppt werden, erscheinen nicht in der Grenzwacht-Statistik. Zur Nationalität der mutmasslichen Schlepper macht das zuständige Bundesamt keine Angaben.

Österreich intensiviert Kampf gegen Schlepper

Doch wie gehen Menschenschmuggler vor? Laut Fedpol handelt es sich meist um «transnational operierende Täternetzwerke, die einerseits zusammenarbeiten, andererseits ihre eigenen Methoden haben und diese laufend weiterentwickeln». Einige würden den Schmuggel vom Herkunfts- bis ins Zielland organisieren, andere nur einzelne Abschnitte.

Wie viele Migranten mit Hilfe von Schleppern in die Schweiz gelangen, weiss das Fedpol nicht. Klar sei, dass Menschenschmuggler «alle möglichen Beförderungsmöglichkeiten» nutzen. Das bedeutet im Klartext: Last-, Liefer- und Personenwagen, Online-Mitfahrplattformen oder der klassische Schmuggel über die grüne Grenze.

Der Fall mit den 23 Migranten im Kanton Nidwalden ist für die Schweiz beispiellos. Anders sieht es in Österreich aus. Es jagen sich Schlagzeilen über Menschen, die in Kofferräumen von Personenwagen, in Stauboxen und anderen Verstecken in Last- oder Lieferwagen aufgespürt werden. Während die Zahl der Asylgesuche stark steigt, hat Wien den Kampf gegen die Schlepper in den letzten Monaten intensiviert. «Die organisierte Schleppermafia ist zurück – und wir müssen ihr einen Riegel vorschieben», sagt Innenminister Gerhard Karner.

Gefährliche Reise: Unterschlupf für Migranten im Lastwagen
Gefährliche Reise: Unterschlupf für Migranten im Lastwagen.Bild: Bundeskriminalamt Österreich/Aargauer Zeitung

Die Schleuser nehmen Tote in Kauf, wie die zwei folgenden Beispiele zeigen.

  • Am 13. August durchbrach ein Lieferwagen auf der Autobahn A6 im Burgenland eine Polizeikontrolle. Der russische Schlepper, der 20 Personen zusammengepfercht hatte, raste davon. Das Fahrzeug überschlug sich, drei Menschen starben.
  • Im vergangenen Oktober entdeckte die Polizei an der Grenze zu Ungarn im Burgenland in einem gelben Kleinbus 29 Personen. Zwei Männer aus Syrien erlitten einen qualvollen Erstickungstod.

Die Vorfälle erinnern an das Drama im österreichischen Pandorf vom 27. August 2015. In einem Kühllastwagen wurden 71 Leichen gefunden. Mehrere Täter kassierten später in Ungarn lange Haftstrafen.

3000 bis 7000 Euro für die Lebensgefahr

Bis Mitte August sind in Österreich 330 Schlepper ins Netz gegangen, etwa 80 mehr als im Vorjahr. Sie stammen vornehmlich aus Syrien, Afghanistan, Bosnien, Ungarn, Serbien und Österreich. Ein grosser Teil der Flüchtlinge sind Afghanen und Syrer. Zu einer Migrationsdrehscheibe ist Serbien avanciert, eine Zwischenstation auf der Balkanroute. Im österreichischen Radio berichteten Migranten, sie hätten 3000 bis 7000 Euro hingeblättert für die lebensgefährlichen Reisen in den gelobten Westen.

Gemäss dem österreichischen Bundeskriminalamt streiten sich vier rivalisierende Schleppergruppen um das lukrative Geschäft. Oft werden Flüchtlinge in Lastwagen versteckt, ohne dass der Chauffeur etwas davon bemerkt. Die österreichischen Behörden machen Schwerpunktkontrollen bei Last- und Lieferwagen, setzen aber auch auf Drohnen, Helikopter und Wärmegeräte.

Tessiner Polizei vermeldet Erfolg

Wie stark die in Österreich aktiven Schlepper den Transport in und durch die Schweiz orchestrieren, ist nicht bekannt. Fest steht: In der letzten Woche vereinbarte Justizministerin Karin Keller-Sutter mit Österreich einen gemeinsamen Aktionsplan gegen die illegale Einwanderung. Aktuell reisen die meisten Migranten im Zug von Österreich in die Schweiz ein. Die Grenzwacht führt risikobasierte und lageabhängige Kontrollen in verschiedenen Verkehrsmitteln durch, Drohnen werden aktuell keine eingesetzt. Systematische Grenzkontrollen lehnt der Bundesrat ab.

Einen Erfolg gegen die illegale Migration vermeldete gestern die Tessiner Kantonspolizei. Ein Iraner und zwei Iraker befinden sich seit dem 20. September in Untersuchungshaft. Eine vierte Person verhaftete die Zürcher Kantonspolizei. Ihnen wird vorgeworfen, als Teil eines internationalen Verbrechernetzwerkes Menschen von Italien durch die Schweiz nach Deutschland und andere Länder im Norden Europas geschleust zu haben.

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