Schweizer Geburtenrate auf Allzeittief – die Angst vor dem Aussterben ist nicht neu
«Sterben die Schweizer aus?» So provokant überschrieb die «Kommission Bevölkerungspolitik» von 1985 ihren aufsehenerregenden Bericht. Darin stellten die Experten der Gesellschaft für Statistik und Volkswirtschaft drei Szenarien zur Bevölkerungsentwicklung vor. In der düstersten Variante gingen sie von der bereits damals niedrigen Geburtenrate aus. Diese war nach dem «Pillenknick» ab 1966 auf unter 2 Kinder pro Frau gefallen. Seit 1972 verharrte sie auf einem Niveau, das nicht für den Erhalt der Elterngeneration reichte.
Diesen Trend verlängerten die Experten in die Zukunft. Im pessimistischsten Szenario rechneten sie damit, dass die Bevölkerung von damals 6,3 Millionen auf 5 Millionen im Jahr 2040 einbrechen werde. Sie blickten noch weiter voraus ins Jahr 2100. «Nach einer Ruhephase bis etwa im Jahr 2010 wird sich der Bevölkerungsrückgang immer mehr beschleunigen und wird (theoretisch) zu einem langsamen Aussterben der Bevölkerung führen», hiess es.
Baby-Boom und Aufschwung waren schwer vorstellbar
Es kam bekanntlich anders. Statt auszusterben, wuchs die Schweiz rasant. Im Jahr 2010 zählte das Bundesamt für Statistik 7,8 Millionen Menschen. Die Studie der renommierten Forscherinnen und Forscher lag massiv daneben.
Es war nicht das erste Mal, dass der Geburtenschwund für Ängste sorgte. Bereits in der krisengeplagten Zwischenkriegszeit war das Schreckgespenst des Bevölkerungskollaps herumgegeistert. Ende der 1930er-Jahre kursierte eine Prognose, die von 2,8 Millionen Menschen im Jahr 2000 fantasierte. «Unser Lebensquell ist am Versiegen», warnte der katholisch-konservative Verleger Albert Studer-Auer.
Auch diese Prognose wurde von der Realität überholt. Sie scheiterte wie ihre Nachfolger daran, eine komplexe Zukunft vorherzusagen. So konnten sich die Alarmierten in den 1930er-Jahren nicht vorstellen, dass in der Schweiz die Geburtenrate wieder steigen wird. Doch genau das passierte, und zwar bereits im Zweiten Weltkrieg, als sich die Niederlage der Nazis abzeichnete.
Mehr noch: Nach dem Krieg setzten drei glorreiche Jahrzehnte des wirtschaftlichen Aufstiegs und ein regelrechter Baby-Boom ein. Mit alledem hatten die Warner einige Jahrzehnte vorher nicht gerechnet. Ähnlich erging es Propheten nach dem Erdölschock in den 1970er-Jahren. Die Studienkommission von 1985 unterschätzte insbesondere die Sogwirkung der später aufstrebenden Schweiz und deren Integrationskraft (sie gingen tatsächlich davon aus, dass sich Ein- und Auswanderungen die Waage halten werden).
«Damals wurde nicht nur die steigende Lebenserwartung komplett unterschätzt. Auch, dass nach der Abwanderung der Gastarbeiter in der Wirtschaftskrise 1974/78 dereinst hochqualifizierte Fachkräfte in grosser Zahl einwandern könnten, hatte niemand erwartet», sagt der Soziologe und Altersforscher François Höpflinger. Er hat sich in seinem Buch «Bevölkerungswandel» intensiv mit den damaligen Debatten auseinandergesetzt.
Auch das Bundesamt für Statistik warnte
«Die Demografie dient oft dazu, optimistische wie pessimistische gesellschaftliche Vorstellungen zu untermauern», sagt Höpflinger. In der Zwischenkriegszeit waren es Vertreter des konservativen Familienmodells, das Ängste schürten und zu einer staatlichen Geburtenförderung aufriefen. In den 1970er-Jahren wurden die düsteren Prognosen dazu genutzt, um vor den verheerenden sozialen Problemen und den explodierenden Gesundheitskosten zu warnen. Einige Jahre später war es die Sorge um die Finanzierung der AHV, die zu alarmistischen Tönen verleitete. Sogar das Bundesamt für Statistik warnte 1990 davor, dass das «jahrhundertealte Bevölkerungswachstum ausläuft».
Diese Prognosen liefen nicht nur ins Leere, weil sie mehr politischem Wunschdenken als sachlicher Analyse entsprachen. Es ist generell schwierig, künftige wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen abzuschätzen. Das haben aktuell der Ukraine-Krieg oder Trumps erratische Handelspolitik gezeigt. Der Soziologe Höpflinger sagt deshalb:
Vor diesem Hintergrund sind aktuelle Modellrechnungen mit Vorsicht zu geniessen. Der Demograf Philippe Wanner von der Universität Genf führte beispielsweise aus, dass die Schweizer Bevölkerung noch bis 2035 wachsen wird. Doch danach geht es bergab. Dies begründet er vor allem damit, dass nicht nur die Schweizer Geburtenrate auf einen Tiefpunkt gefallen ist (siehe Grafik).
Im benachbarten Ausland ist der Trend bereits weiter fortgeschritten. Die Bevölkerung beginnt bereits zu schrumpfen, weshalb aus diesen Ländern weniger Menschen in die Schweiz kommen werden. Tatsächlich wuchs die hiesige Bevölkerung in den letzten Jahren hauptsächlich noch wegen der Zuzüger. Fallen diese weg, könnte laut Wanner bereits in zehn Jahren ein Arbeitskräftemangel drohen.
Doch selbst wenn die hiesige Bevölkerung abnehmen würde, wäre das nicht zwingend eine schlechte Nachricht. «Auch eine schrumpfende Gesellschaft kann ihren Wohlstand halten und innovativ bleiben», sagt François Höpflinger.
Die magische Zahl der «10-Millionen-Schweiz»
Es gibt durchaus Bevölkerungsprognosen, die sich als zutreffend herausgestellt haben. Francesco Kneschaurek, Professor an der HSG, legte Anfang der 1970er-Jahre die sogenannten Perspektivstudien vor. Er errechnete, dass um die Jahrtausendwende rund 7,1 Millionen Menschen in der Schweiz leben werden. Das traf ziemlich genau ein. Doch daran erinnert sich niemand mehr, wie die NZZ darlegte.
Stattdessen ist Kneschaurek – fälschlicherweise – als Erfinder der «10-Millionen-Schweiz» bekannt geworden. Es ist jene magische Zahl, mit der die SVP heute Stimmung macht. Kneschaurek sah damals den Fehler beim Finanzminister Nello Celio. Dieser habe bei der Präsentation der Ergebnisse im Bundesrat geschlafen und danach die falsche Zahl in die Welt gesetzt. Seither verfolge diese ihn «wie ein streunender Hund».
Der Fall Kneschaurek zeigt, dass Prognosen ein Eigenleben entwickeln können, deren Folgen bis heute spürbar sind. Der Blick zurück zeigt aber auch, dass selbst von weit danebenliegenden Vorhersagen gültige Einsichten bleiben. So schrieb die Studienkommission, die 1985 vor dem Aussterben der «Schweizer» warnte: «In einem demokratischen Staat wie der Schweiz entscheidet jede/r selbst darüber, ob sie/er Kinder haben will oder nicht.»
Es ist genau das, was Bevölkerungsprognosen wie auch Massnahmen zur Geburtenförderung so schwierig machen. Die Bewohner und die Zukunft lassen sich nur beschränkt steuern. (aargauerzeitung.ch)
