Kantonswechsel abgelehnt: Weshalb eine ukrainische Mutter täglich stundenlang pendeln muss
Sie hat zwei Universitätsabschlüsse in Wirtschaft und Psychologie. Die Probezeit in der Administration einer Pharmafirma in Basel hat die Ukrainerin mit Bravour bestanden, sie darf längerfristig bleiben. Ihr Arbeitgeber würde ihr sogar bei der Wohnungssuche in Basel helfen. Doch der Kanton Basel-Stadt stellt sich quer.
Die Geflüchtete darf nicht von Oberkirch im Kanton Luzern in den Kanton Basel-Stadt ziehen – obwohl sie dank einer 100-Prozent-Stelle wirtschaftlich auf eigenen Beinen steht.
Das macht der Frau zu schaffen. Von Haustür zu Haustür benötigt sie für einen Weg etwa eine Stunde und 50 Minuten. Sie verbringt täglich fast vier Stunden in Bussen, Zügen und Trams.
Die Frau stammt aus Kiew und floh kurz nach Russlands Angriff auf die Ukraine in die Schweiz. Seit Anfang März wohnt sie mit ihren beiden Söhnen (9 und 4 Jahre alt) in der 5.5-Zimmer-Wohnung von Elias Meier in Oberkirch. Auch die Grosseltern leben in Oberkirch. Sie helfen bei der Kinderbetreuung, dazu gibt es familienexternen Support in Tagesstrukturen der Schule und Spielgruppe.
Meier ist verheiratet und hat selber drei Kinder (10, 6 und 3 Jahre alt). Das Zusammenleben in dem Grosshaushalt klappe gut. «Es ist lebendig. Manchmal streiten die Kinder miteinander», sagt Familienvater Meier. Nicht nur wegen der Kriegswirren in der Heimat geht ihm die Situation seiner Gäste nahe.
Am Wochenende hat Meier seinem Unmut über den Entscheid des Kantons Basel-Stadt öffentlich gemacht. Basel-Stadt erwarte von ihr, dass sie weiterhin täglich mehrere Stunden pendle und ihre Kinder unter der Woche kaum sehe. «Danke für nichts, Kanton Basel», twitterte Meier.
Der sonst so soziale Kanton @BaselStadt erwartet mit diesem Entscheid von ihr, dass sie weiterhin täglich mehrere Stunden pendelt und ihre Kinder kaum sieht unter der Woche. Danke für nichts, Kanton #Basel!
— Elias Meier (@meierelias) September 17, 2022
Er betonte, die Mutter beziehe seit Monaten keinen roten Rappen Sozialhilfe. Meier kann nicht verstehen, weshalb der Kanton Basel-Stadt nicht bereit ist, eine Ukrainerin bei sich aufzunehmen, die auf eigenen Beinen steht und eine Fachkraft ist.
Grundsätzlich dürfen Asylsuchende, vorläufig aufgenommene Personen sowie Menschen mit Schutzstatus S ihren Wohnkanton nicht selber auswählen. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) verteilt sie gleichmässig auf die Kantone. Der Berner Migrationsanwalt Michael Steiner bemerkte denn auch auf Twitter, der Fall der Ukrainerin überrasche ihn nicht: «Die Behörden greifen auf die seit Jahren bekannten Verfahren zurück.»
Doch warum legen die Basler Behörden der Frau, die sich schon kurz nach ihrer Ankunft in der Schweiz erfolgreich in der Arbeitswelt etabliert hat, Steine in den Weg? Liegt der Grund in der Angst, dass sie im Fall eines Jobverlusts Sozialhilfe in Basel beziehen könnte, wie der Berner Migrationsanwalt Michael Steiner twitterte?
Nach jahrelanger Erfahrung mit Flüchtlingen überrascht mich das gar nicht. Wir vergessen: Für diese Behörden sind die Flüchtlinge aus der Ukraine "nichts Neues". Sie greifen auf die seit Jahren bekannten Verfahren zurück.
— Michael Steiner (@AnwaltSteiner) September 17, 2022
Zum Einzelfall der Ukrainerin äussert sich der Kanton Basel-Stadt nicht. Eine Sprecherin weist darauf hin, das Schweizer Asylsystem fusse auf dem Grundgedanken eines Verteilschlüssels. Deswegen würden Kantonswechsel bei bereits zugewiesenen Personen nur zurückhaltend ermöglicht. Zudem habe Basel-Stadt bereits mehr Personen mit Schutzstatus S aufgenommen als vom Verteilschlüssel vorgesehen.
Unter gewissen Umständen haben Schutzsuchende aber einen Anspruch, in einen bestimmten Kanton ziehen zu dürfen – etwa dann, wenn der Ehepartner oder die Kinder bereits dort wohnen. Schutzsuchende können beim SEM auch aus anderen Gründen, zum Beispiel wegen des Arbeits- und Ausbildungsorts, einen Wechsel beantragen. Die Kantone nehmen in diesem Fall Stellung und liefern dem SEM damit die Entscheidungsgrundlage.
Damit ein Umzug klappt, müssen der aktuelle und der künftige Wohnkanton einverstanden sein. Weitere Kriterien lauten: Die schutzbedürftige Person bezieht weder für sich selber noch ihre Familienangehörige Sozialhilfe. Sie hat schon während eines Jahres einen Arbeitsvertrag oder der Verbleib im Wohnkanton ist wegen des Arbeitswegs oder der Arbeitszeiten unzumutbar. Die Kantone haben also Ermessensspielraum.
Staatssekretariat für Migration heisst die meisten Gesuche gut
Bis jetzt hat das SEM über Gesuche für Kantonswechsel entschieden, die 1565 Personen mit Schutzstatus S betreffen. Drei Viertel der Anträge – bei den meisten ging es um die Zusammenführung der Familie – hiess es gut.
Bei der Pendlerfrage orientieren sich die Behörden am Arbeitslosengesetz, wie ein SEM-Sprecher auf Anfrage sagt. Es besagt, ein Hin- und Rückweg von bis zu zwei Stunden ist zumutbar. Die Ukrainerin kommt auf etwa zehn Minuten weniger. An diesem Thema scheint ihr Wechsel nach Basel indes nicht gescheitert zu sein. Die Sprecherin des Kantons teilt mit, bei der Pendlerdistanz betrachte man jeden Einzelfall. Es gebe keine starren Kriterien, ein Arbeitsweg von etwa 90 Minuten werde als zumutbar erachtet.
Ganz in Stein gemeisselt ist das Njet der Behörden noch nicht. Die Mutter hat noch bis am 26. September Zeit, dem SEM schriftlich mitzuteilen, welche Gründe auch ihrer Sicht für einen Kantonswechsel sprechen. Die Chancen für ein Happy End dürften, das zeigen Gespräche von CH Media mit Migrationsexperten, aber gering sein.
