Das Staatssekretariat für Migration (SEM) hat im Herbst eine neue Kategorie für minderjährige Flüchtlinge geschaffen, die ohne Eltern oder Erziehungsberechtigte in die Schweiz geflüchtet sind. Dies deckte der «Beobachter» am Freitag auf. Auch watson stand diesbezüglich mit dem SEM schon in Kontakt.
Die neue Kategorie ist nicht nur von bürokratischer Bedeutung, sondern wirkt sich auch auf die Betreuung und Unterbringung von Minderjährigen aus – viele von ihnen verlieren ihre sozialpädagogische Betreuungsperson und können nicht mehr zur Schule. Laut Expertinnen und Experten widerspricht das der UNO-Kinderrechtskonvention, welche die Schweiz 1997 ratifiziert hat.
Eine Übersicht in 5 (unterschiedlich langen) Punkten.
Bisher gab es einzig die Bezeichnung UMA, die alle unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden einschloss. Laut dem «Beobachter» stehen ihnen unter anderem eine Rechtsvertretung und tägliche Gespräche mit einer Sozialpädagogin zu. Ausserdem werden ihre Asylanträge bevorzugt behandelt.
Seit Oktober 2022 gibt es die Abkürzung SUMA, die für selbstständige unbegleitete minderjährige Asylsuchende steht. Wie das SEM auf Anfrage von watson schreibt, sei dies aber keine «offizielle Bezeichnung».
Der «Arbeitsbegriff» diene lediglich dazu, im Betrieb der Bundesasylzentren (BAZ) zwischen den beiden Betreuungsgruppen, also UMA und SUMA, zu unterscheiden. Drastische Folgen für die Betroffenen hat es dennoch.
Als SUMA gelten Jugendliche von 16 bis 18 Jahre, die laut SEM «aufgrund ihres Alters und ihres Reifegrades» nun neu «weniger spezifisch» untergebracht und «weniger intensiv» betreut werden. Laut einer Statistik des SEM machte diese Altersgruppe 2022 über 70 Prozent der minderjährigen unbegleiteten Asylsuchenden aus.
In einem Betreuungshandbuch, das dem «Beobachter» vorliegt, steht, dass den Jugendlichen «Schutz und Sicherheit geboten werden [soll], damit sie sich altersgerecht entwickeln können». Zudem sei ihre «Privatsphäre zu respektieren».
SUMA können diese Ansprüche verlieren. So steht ihnen zum Beispiel keine sozialpädagogische Bezugsperson mehr zur Seite. Der Betreuungsschlüssel sieht laut «Beobachter» einen Sozialpädagogen für 15 UMA vor – aber keinen für Erwachsene.
Auch wird den SUMA der Zugang zur Schule verwehrt. Laut dem SEM obliegt die Bildung der minderjährigen Asylsuchenden (grundsätzlich bis 16 Jahre) den Kantonen, doch das Schulsystem ist überlastet. Heisst: Weil es an Lehrpersonen und Schulräumen fehlt, verzichtet man vorübergehend darauf, SUMA Zugang zu Bildung zu gewährleisten.
Ausserdem werden SUMA in überfüllten Räumen untergebracht, teils mit über hundert Gleichaltrigen. Der «Beobachter» bedient sich eines Beispiels in Dübendorf in Zürich, wo zuletzt 140 SUMA während sechs Wochen in einer Mehrzweckhalle untergebracht waren.
Die UNO-Kinderrechtskonvention verpflichtet die Schweiz als Mitgliedstaat, allen bis 18 Jahren – unabhängig ihres Geschlechts, ihrer Herkunft oder Staatsbürgerschaft, Sprache, Religion oder Hautfarbe – das Recht auf Bildung, Entwicklung, Gesundheit, Gleichbehandlung, Privatsphäre und Schutz vor Gewalt zu gewährleisten. Laut Expertinnen und Experten wird dies mit der Massnahme nicht mehr eingehalten.
Laut dem SEM beschneidet die neue Kategorie die Jugendlichen jedoch nicht in ihren Rechten, sondern ermöglicht es lediglich, das «Unterbringungs- und Betreuungsregime» anders zu regeln. Mit der Aufteilung würde sichergestellt, so das SEM, dass die jüngeren, «vulnerableren» UMA weiterhin eine enge und strukturierte Betreuung durch Sozialpädagoginnen und -pädagogen bekämen. Die Betreuung der SUMA hingegen sei wegen Personalmangel gekürzt worden.
Das SEM schreibt auf Anfrage an watson: «Es ist nicht so, dass wir diese Aufteilung bei den unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden ‹wollen›, aber wir müssen uns an der Realität orientieren.» Und diese sei von Engpässen geprägt, einerseits bei der Betreuung, andererseits bei der Unterbringung.
Im Februar hätten dem SEM 30 Vollzeitstellen gefehlt. Ausserdem habe allein das SEM in den vergangenen Monaten 28 zusätzliche Unterkünfte eröffnet, um dem Andrang von Asylsuchenden gerecht werden zu können. Vor zwei Jahren hielten sich 989 unbegleitete minderjährige Asylsuchende in der Schweiz auf, 2022 waren es 2450.
Die Aufteilung sei erfolgt, so das SEM, weil es in den BAZ mit Verfahrensfunktion (Altstätten, Basel, Bern, Boudry, Chiasso, Zürich) nicht mehr genug Platz für alle unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden gegeben habe. Infolgedessen würden SUMA unter anderem jetzt auch in BAZ ohne Verfahrensfunktion untergebracht.
Laut dem SEM handelt es sich um ein «Notfallkonzept», das dann «schrittweise» aufgehoben werde, wenn es wieder genügend Personal und geeignete Unterkünfte für die UMA gebe. Wann genau das sein wird, ist zurzeit nicht abzusehen.
Wenn keine, oder zu wenig, Lehr- und Betreuungspersonen zur Verfügung stehen, muss man halt etwas machen. Einfach aus dem Hut zaubern kann das SEM diese ja nicht. Und dann lieber den fast Erwachsenen keine spezifische Betreuung zuweisen, als den wirklich betreuungswürdigen Kindern (<16) weniger Betreuung zukommen lassen.