Bereits zum 57. Mal findet am Ufer des Genfersees das Montreux Jazz Festival statt. Seit zehn Jahren ist Mathieu Jaton das Aushängeschild des geschichtsträchtigen Events. Er ist nach dem Tod des Gründers Claude Nobs in dessen Fusstapfen getreten. watson sprach mit ihm über die diesjährige Ausgabe, seine schönsten Erinnerungen und darüber, was das Montreux Jazz Festival so einzigartig macht.
Wie war das Montreux Jazz Festival bisher?
Mathieu Jaton: Verrückt, absolut verrückt. Eines meiner Highlights war definitiv Sam Smith.
Wieso?
Als er 2015 zum ersten Mal hier war, war er so begeistert, dass er bald wieder nach Montreux zurückkehrte und seine ganze Familie mitbrachte. Die Liebe, die er dieses Jahr auf der Bühne versprüht hat, war unvergleichbar. Solche Momente bleiben einem in Erinnerung.
Waren Sie aufgeregt, bevor das Festival losging?
Ja, vor allem das mittlere Wochenende hat mir zu denken gegeben. Denn das Programm war besonders riskant: Am Sonntag hatten wir Jon Batiste und Jacob Collier.
Wieso ist das riskant?
In den USA ist Jon Batiste ein Held, hier in der Schweiz kennen ihn jedoch nicht so viele. Und Jacob Collier ist ein fantastischer Künstler, dessen Musik man entweder liebt oder hasst.
Und, wie kam es?
Es ist genau das passiert, was ich erwartet habe: Wir haben mit diesen mehr oder weniger unbekannten Künstlern den Nerv getroffen.
Waren Sie in der Rolle des Festivaldirektors immer selbstbewusst genug, solche Risiken einzugehen?
Ich hatte die Ehre, Claude fast 15 Jahre in meiner Funktion als Generalsektretär über die Schulter zu schauen. Ich wusste von Anfang an, dass er auf meine Fähigkeiten vertraut und mir genau darum die Aufgabe seiner Nachfolge auferlegt hat.
Wie kam es dazu?
Einen Monat vor seinem Tod hat Claude gesagt, er habe mich ausgelesen, weil er wisse, dass ich das Festival in die Zukunft führen werde. Weil ich Dinge könne, die er nicht gekonnt habe. Mit diesem Satz im Hinterkopf ist es nicht wichtig, wer von aussen her an mir zweifelt.
Wie hat sich die Eventbranche seither verändert?
Corona war ein Verstärker für einen Wandel, der sich bereits längere Zeit abgezeichnet hat.
Erklären Sie.
Die Musikindustrie besteht aus zwei Teilen: Auf der einen Seite sind da die Weltstars mit immer extravaganteren, spektakuläreren Shows, die möglichst viel Geld einspielen – auf der anderen Seite steht ein Konzert, das Nähe zwischen Zuschauer und Künstler und eine familiäre Atmosphäre schafft.
Können Sie ein Beispiel machen?
The Weeknd und Beyonce spielen nicht in der Schweiz, weil sie hier 80'000 bis 100'000 Tickets verkaufen müssen, um die Produktionskosten zu decken. Die richtig grossen Künstler spielen nicht auf Schweizer Festivals. Das war vor 10 Jahren noch anders, was bedeutet, dass dieser Markt bereits stark ausgeschöpft ist.
Und wie ist es am Montreux Jazz Festival?
Wir hatten vor wenigen Tagen Lil Nas X auf unserer Bühne stehen – ohne Band, nur mit Tänzern und Musik auf Band im Hintergrund. Es war eine vortreffliche, typisch amerikanische Show. Daraufhin hatte Sam Smith einen zweistündigen Auftritt – einen typisch europäischen, mit vielen Musikern und einer grossen Stimme.
Was war der Unterschied?
Sam Smith betrat die Bühne mit einem warmen Lächeln und sagte, er freue sich, endlich wieder in Montreux zu sein. Er berührte die Zuschauer mit seinem Auftritt.
Und Lil Nas X?
Man kannte seine Songs und konnte mitsingen. Die bis ins Detail geplante Show wird er am nächsten Festival wieder genau gleich aufführen. Egal, wo auf der Welt du Lil Nas X, Beyonce oder The Weeknd siehst – das Erlebnis wird genau dasselbe sein.
Was bedeutet das für die Eventbranche?
Früher dachte man, zuerst kommt es bei der Festivalorganisation auf die Namen auf dem Programm und erst dann das Setting an. In der Zukunft wird das Erlebnis an erster Stelle stehen, dann kommt das Setting und erst dann die Namen auf dem Programm. Das heisst, dass ein Festival mit eigener Atmosphäre und einer klaren Positionierung und Message in der Lage sein wird, sich weiter im Markt durchzusetzen.
Ist es das, was das Montreux Jazz Festival so erfolgreich macht?
Ja. Unser Format ist einzigartig in der Schweiz und vielleicht sogar weltweit. Wir sind urban. Wir sind drinnen und draussen. Wir sind kostenpflichtig und gratis. Ein weiterer Grund ist die überschaubare Grösse von Montreux im Vergleich zum Montreux Jazz Festival. 20’000 Menschen leben hier, 250’000 Besuchende kommen vorbei.
Auch bei den Künstlern scheint es beliebt zu sein, wenn man ihre Instagram-Stories ansieht.
Die Künstlerinnen sind nicht nur nahe an ihrer Audienz, sondern auch an anderen Künstlern. Man begegnet sich spontan am See oder im Lift und lässt sich vielleicht auf eine gemeinsame Jam-Session ein. Sofia Portanet und Chilly Gonzales hatten mal ein gemeinsames Interview hier und beschlossen danach, zusammen einen Song aufzunehmen.
Apropos spontan: Wie viel lässt sich bei einem zweiwöchigen Festival überhaupt planen?
Schätzungsweise 70 Prozent lassen sich planen, die restlichen 30 müssen improvisiert werden. Dies unterscheidet sich jedoch von Sektor zu Sektor, beim Booking beispielsweise wird genauer geplant. Man muss Raum lassen für Spontaneität – denn hier passiert die Magie.
So habe ich Montreux immer erlebt und liebe es. Möge es noch lange so bleiben ❤️