Liebe Frau Seiler Graf
Ich gelange an Sie in Ihrer Funktion als Co-Präsidentin der Sozialdemokratischen Partei des Kantons Zürich. Als solche haben Sie diese Woche mit der Vertrauensfrage an den umstrittenen bis verhassten Sicherheitsdirektor Mario Fehr ein ziemliches Gewurschtel vom Stapel gelassen und stehen jetzt ein bisschen blöd da. Aber nicht für lange, wie ich glaube.
Denn es ist mir jetzt klar, warum die SP die Stadtzürcher Wahlen gewonnen hat, warum die SP die Kantonalzürcher Wahlen gewinnen wird und warum die SP auch bei den nationalen Wahlen nächstes Jahr zulegen wird.
Ihre SP ist wieder authentisch. Das Kernanliegen und das Gebaren sind kongruent. Man nimmt Ihren Boten die Botschaft ab.
Tönt kompliziert, ist es aber nicht.
Nehmen wir zum Beispiel die SVP. Bei der ist das nicht mehr so. Deswegen ist sie auch nicht mehr erfolgreich.
Nach den verlorenen Berner und Stadtzürcher Wahlen habe ich die Trauer-Interviews von SVP-Präsident Albert Rösti gelesen. Die Personenfreizügigkeit überschwemme und ruiniere uns wirtschaftlich, die Mittelschicht leide Not wegen der Sozialhilfebezüger und diese Mittelschicht vegetiere nun verarmt in der Agglomeration vor sich hin, wohin sie von ebendieser Personenfreizügigkeit vertrieben worden sei und so weiter und so fort.
Ländlich-bildungsfern geprägten SVP-Exponenten wie Maurer, Schibli, Scherrer oder Bortoluzzi in Kurzarm-Hemden hat man solchen Blödsinn noch abgenommen. In ihrer bäuerischen Abneigung gegen das Fremde, die Armengenössigkeit und urbaneske Modernisierungstendenzen waren sie glaubwürdig. Und konnten so die angeblichen Kernanliegen ihrer Partei authentisch transportieren.
Aber Männer wie Albert Rösti, Thomas Aeschi, Roger Köppel oder Gregor Rutz? Studierte ETH-Ingenieure mit MBAs, Unternehmensberater, Verleger und Juristen in Massanzügen? Aus deren Mündern wirken die agripoppen SVP-Botschaften ans Wahl- und Stimmvolk lächerlich.
Ganz anders bei Ihnen in der SP! Noch unlängst als Cüpli-Sozialisten belächelt, kämpfen Sie wieder mit harten Bandagen, betreiben Machtpolitik und Intrige, dass es der klassenkämpferischen Tradition der Sozialdemokratie mehr als zur Ehre gereicht.
Da versucht die Basler SP-Fraktion seit geraumer Zeit Silvia Schenker von ihrem Nationalratssitz runter zu mobben, weil ein anderer den Sitz will. Schamlos öffentlich und unverblümt unanständig.
Da desavouiert die Zürcher SP-Stadtpräsidentin ihre Kollegin im Gesundheitsdepartement öffentlich. Derart, dass diese drei Wochen vor den Wahlen den Bettel schmeisst und sich so mit kalkuliertem Sitzentzug an der Partei rächt.
Danach baut diese SP-Stadtpräsidentin diese Regierung um und verbannt die Bürgerlichen auf Risiko- und die eigenen Leute auf Trostposten. Und erntet dafür noch höchste politische Weihen mit dem Übernamen «Machtmissmauch».
Und nun kommen Sie noch mit dem öffentlichen Stand-Off mit Sicherheitsdirektor Mario Fehr, der mit einer Vertrauensabstimmung für eine allfällige nächste Amtszeit auf Linie gebracht werden soll. Und was macht der? Tritt lieber als Unabhängiger an, als sich im innerparteilichen Machtkampf zu unterwerfen.
Schon Ihre ideologischen Urväter Marx und Engels sahen ihn als «Motor der Geschichte» – den Kampf um Ressourcen und Macht. Und den zelebriert derzeit in der Schweizer Politlandschaft niemand eifriger, effizienter und lustvoller als Ihre SP-Exponenten.
Politisches Kernanliegen der Partei und das Gebaren ihrer Exponenten könnten bei Ihnen derzeit also nicht kongruenter, die Authentizität nicht grösser sein.
Ganz wie einst bei der SVP.
Mit freundlichen Grüssen
Maurice Thiriet