Einen Vorgeschmack auf das, was der Schweiz in nächster Zeit blühen dürfte, gab es bereits am Mittwoch. Am selben Tag, an dem der Bundesrat das institutionelle Abkommen mit der EU versenkte, verlor die Schweizer Medizintechnik-Branche den privilegierten Zugang zum EU-Binnenmarkt. Damit fällt die Schweiz auf den Status eines Drittstaates zurück.
Die EU hatte der Schweiz die anstehende Aktualisierung des bilateralen Abkommens über die technischen Handelshemmnisse im Medtech-Bereich verweigert, mit Verweis auf den fehlenden Durchbruch beim Rahmenabkommen. Nachdem dieses vom Tisch ist, müssen sich andere Branchen auf ähnliche Unannehmlichkeiten einstellen.
Atmosphärisch sind ebenfalls schwierige Zeiten zu erwarten. So wollte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen offenbar weder mit Bundespräsident Guy Parmelin telefonieren, noch den von Staatssekretärin Livia Leu nach Brüssel überbrachten Brief persönlich in Empfang nehmen. Offizielle Begründung: keine Zeit.
In Wirklichkeit hatte die Deutsche wohl schlicht «kei Luscht». Ihre Verweigerung oder eher Brüskierung ist ein Signal an die Schweiz, dass sie nicht mit Schonung von Seiten der EU rechnen darf. Welche Optionen aber hat die Schweiz nach dem Schiffbruch des Rahmenvertrags für das Verhältnis zu ihrer wichtigsten Handelspartnerin?
Dieser ziemlich euphemistische Begriff umschreibt eine Praxis, die das Nichtmitglied Schweiz schon lange anwendet. Sie übernimmt einseitig neues EU-Recht, um die Hürden für den bilateralen Handel möglichst tief zu halten. Nun will die Schweiz dieses Instrument wieder verstärkt einsetzen, wie Justizministerin Karin Keller-Sutter am Mittwoch erklärte.
Allzu konkret wurde sie nicht, was Irritationen bei Befürwortern wie Gegnern des Rahmenvertrags auslöste. Teilweise wurden ihre Äusserungen so interpretiert, dass die Schweiz künftig in «vorauseilendem Gehorsam» EU-Recht übernehmen könnte. Doch selbst dies würde keinen reibungslosen Zugang zum EU-Binnenmarkt garantieren.
Eine Lieblingsoption von Rechtsbürgerlichen und Wirtschaftskreisen ist die Modernisierung des Freihandelsabkommens von 1972 nach dem Vorbild des EU-Vertrags mit Kanada (CETA), allenfalls ergänzt durch die Personenfreizügigkeit. Aussenminister Ignazio Cassis soll damit im Gesamtbundesrat jedoch auf einhellige Ablehnung gestossen sein.
Die EU dürfte in diesem Fall harte Bedingungen stellen und die Öffnung bislang abgeschotteter Wirtschaftssektoren verlangen, etwa der Landwirtschaft oder des Strommarktes. Dies hätte «schwierige Debatten mit den Bauern und wohl auch den Kantonen nach sich gezogen», schreibt die NZZ.
Im Vorfeld des Bundesratsentscheids ventilierten Vertreter der Zivilgesellschaft um die Operation Libero die Idee, den Bundesrat mit einer Volksinitiative zur Unterzeichnung des Rahmenabkommens zu «zwingen». Die Idee ist auch nach dem Entscheid vom Mittwoch nicht vom Tisch, sie wird gemäss CH Media vielmehr «mit Hochdruck» geprüft.
Der Zürcher SP-Nationalrat Fabian Molina befürwortet sogar eine Volksinitiative für den EU-Beitritt. Allerdings waren die Schweizer Europafreunde 2001 mit einem ähnlichen Begehren nicht nur haushoch gescheitert. Sie schadeten dem Anliegen damit nachhaltig. Und bis zu einer möglichen Volksabstimmung dürften einige Jahre vergehen.
Im Dezember 1992 scheiterte der Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) nach einem heftigen Abstimmungskampf. Sporadisch taucht er wieder auf. Die SP-Führung wollte vor ein paar Jahren einen EWR 2.0 lancieren, doch sie scheiterte mit der unausgegorenen Idee am Widerstand der Basis. Jetzt könnte er erneut zum Thema werden.
Mit dem EWR wäre die Schweiz in den Binnenmarkt integriert. Die drei Mitglieder Island, Liechtenstein und Norwegen scheinen sich damit gut arrangiert zu haben. Allerdings ist der EWR eine Art «Mitgliedschaft zweiter Klasse». Man übernimmt EU-Recht, ohne mitreden zu können, was eine neue Souveränitätsdebatte provozieren würde.
Für Proeuropäer wie den Baselbieter SP-Nationalrat Eric Nussbaumer ist die Mitgliedschaft in der EU die «sinnvollste aller Varianten». Die Schweiz könnte mitbestimmen, und entgegen vieler Vorurteile können auch kleine Länder in der EU einiges bewegen, besonders wenn sie so finanzstark sind. Dennoch ist die Akzeptanz des EU-Beitritts nahe beim Nullpunkt.
Für eine ehrliche Debatte scheint die Zeit nicht reif zu sein. Es ist widersprüchlich, wenn etwa SP-Copräsident Cédric Wermuth den EU-Beitritt als Möglichkeit bezeichnet und gleichzeitig eisern am Schweizer Lohnschutz festhält. Es ist nur schwer vorstellbar, dass die Schweiz als EU-Mitglied ausgerechnet in diesem Bereich eine Sonderregelung bekäme.
Mehrheitsfähig ist derzeit wohl nur die Option mit dem «autonomen Nachvollzug», auf den der Bundesrat nun setzen will. Gleichzeitig soll das Parlament die neue Kohäsionsmilliarde freigeben, ohne die damit eigentlich verknüpfte Börsenanerkennung. Es sind letztlich einseitige Zugeständnisse der Schweiz ohne echte Erfolgsgarantie.
Als das Verhältnis zur EU nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative im Februar 2014 letztmals arg strapaziert war, listete der «Blick» grossspurig die angeblichen Trümpfe der Schweiz auf. Sie entpuppten sich ausnahmslos als «Brettli». Um die bilateralen Verträge zu retten, setzte das Parlament die Initiative nur in rudimentärer Form um.
Nun werden wieder ganz grosse Töne gespuckt. Am Ende aber könnte die Schweiz zur Erkenntnis gelangen, dass der Rahmenvertrag doch nicht so schlecht war.
Diejenigen welche nun aber einfache Lösungen propagieren à la Rahmenabkommen 2.0 (ohne grosse Änderungen) sind Schlaumschläger oder verkennen die politischen Realitäten.
In der Schweiz wird nur noch verwaltet. Aus dem gleichen Grund werden wir zB. bei der Stromversorgung auf die Nase fallen sobald ein KKW nach dem anderen auseinander fällt und niemand daran gedacht hat, rechtzeitig für Ersatz zu sorgen.