Alexandra blieb zwar eine kleine Episode im Liebesleben von Pierin Vincenz, aber eine, die der Zürcher Staatsanwaltschaft offenbar wichtig genug erschien, um etwas genauer hinzusehen.
Die Tinder-Bekanntschaft, die im Hitzesommer 2015 zu einem ersten Date auf der Limmatterrasse des schicken Hotels Storchen in der Zürcher Altstadt führte, war ein Anlass unter vielen, die dem damals 59-jährigen Raiffeisen-Chef Gelegenheit gaben, seine Männlichkeit unter Beweis zu stellen. Ganz der Gentleman, legte Vincenz für den Abend, oder mindestens jenen Teil davon, 700 Franken auf den Tisch – oder präziser die Firmenkreditkarte aufs Silbertablett.
Im Raiffeisen-Komplex, in dem es um mutmassliche Betrügereien in mehrfacher Millionenhöhe geht, erscheinen solche Beträge fast schon als vernachlässigbar klein. Warum die Strafermittler in ihrer 356 Seiten dicken Anklageschrift gegen Pierin Vincenz, Beat Stocker und fünf weitere Beschuldigte dem Date zwischen Pierin und Alexandra trotzdem diese besondere Beachtung schenkten, mag etwas darüber aussagen, wie akribisch die Ankläger in den vergangenen Jahren gefahndet haben.
Das Interesse der Ermittler an dem «belanglosen» Tête-à-Tête zeigt beispielhaft, wie genau es ab dem 25. Januar zu- und hergehen wird, wenn Hauptrichter Sebastian Aeppli im vollgepackten Zürcher Volkshaus den spektakulärsten Wirtschaftsprozess seit der Swissair-Pleite eröffnet.
Für die Ankläger ist Vincenz' grosszügige Geste gegenüber Alexandra ein Fall von Veruntreuung. Aber waren die privaten Ausschweifungen des Bankers und seines Geschäftspartners Stocker auf Kosten der Firma in der Summe auch eine Form von gewerbsmässigem Betrug, wie die Staatsanwaltschaft behauptet?
Allein für die Rotlichtetablissements, welche die beiden in den Jahren 2009 bis 2015 im ganzen Land besucht hatten, stellten sie ihren Arbeit- respektive Auftraggebern mehr als 200'000 Franken als «Geschäftsspesen» in Rechnung. Dazu kamen im Fall von Vincenz Auslagen für Freizeitreisen, teilweise mit Familie, im Betrag von über 100'000 Franken sowie private Anwaltskosten in sechsstelliger Höhe.
Damit dieses unbestreitbar skandalöse Verhalten aber auch dem schwerwiegenden Tatbestand des gewerbsmässigen Betrugs genügt, werden die Ermittler nachweisen müssen, dass die Organe, die für die Überwachung von Vincenz und Stocker mitverantwortlich waren, deren buntes Treiben nicht selbst hätten erkennen und unterbinden können. Anders ausgedrückt, wird es in dem Prozess wesentlich um die Frage gehen, wie hinterhältig oder arglistig die beiden Hauptbeschuldigten in ihren vielfältigen Handlungen tatsächlich vorgegangen sind.
In der Natur ähnlich, finanziell aber weit gewichtiger als die Spesen waren die diversen Firmenübernahmen, in denen sich die geschäftlichen und privaten Interessen von Vincenz und Stocker vermischten. So macht die Staatsanwaltschaft geltend, die beiden hätten sich mit Hilfe eines Systems von «Schattenbeteiligungen» in vier Fällen zwischen 2006 und 2017 «nicht gebührende Vorteile» in Höhe von über 24 Millionen Franken erschlichen.
Das medial am meisten besprochene Beispiel ist die Übernahme der Firma Commtrain, einer Anbieterin elektronischer Bezahlterminals, durch die Kreditkartenherausgeberin Aduno im Jahr 2007. Stocker und Vincenz hatten sich laut Anklageschrift bereits 2005 an Commtrain beteiligt und ihre Anteile in eine Zuger Briefkastenfirma namens iFM eingebracht. Als einziger Gesellschafter von iFM trat nach aussen der Rechtsanwalt Beat Barthold in Erscheinung, der unliebsame Fragen zu mutmasslichen Auftraggebern unter Verweis auf das Anwaltsgeheimnis abblocken konnte.
Als es 2006 darum ging, die Firmenübernahme einzuleiten, hatte Stocker als Aduno-Chef die operative Verantwortung und Vincenz als Präsident die Oberaufsicht für das Geschäft inne. Die beiden setzten ihren heimlichen Vertrauten Barthold für die Durchführung der rechtlichen Prüfung von Commtrain ein. Barthold akzeptierte schon vor zwei Jahren einen Strafbefehl und verhalf den Raiffeisen-Ermittlern zu wesentlichen Erkenntnissen.
Nach einem ähnlichen Muster verlief auch die Übernahme der Genfer Genève Crédit & Leasing durch die Aduno-Tochter Cashgate, in der sich der Genfer Immobilienmagnat Stéphane Barbier-Mueller als GCL-Minderheitseigentümer mit Stocker auf eine Konstruktion für eine Schattenbeteiligung geeinigt hatte. Beim KMU-Finanzierer Investnet waren es deren Gründer Peter Wüst und Andreas Etter, die Vincenz und Stocker für das «Handshake-Modell einer stillen Partnerschaft» (25 Prozent Beteiligung) im Hinblick auf eine von Raiffeisen angestrebte Übernahme Hand geboten hatten.
Und im Fall der hochverschuldeten Eurokaution (Vermittlung von Mieterkautionsversicherungen), die Stocker ein halbes Jahr nach einer ersten klandestinen Investition gegenüber Vincenz als «ein Stück Scheisse» bezeichnete, schafften die beiden das Kunststück, die Firma mit einem privaten Gewinn an Aduno zu verkaufen und dem alten Eurokaution-Hauptaktionär Ferdinand Locher zu einem schmerzlosen Ausstieg zu verhelfen.
Dieser hat seinen heimlichen Partnern den Gewinnanteil aber bis heute nicht ausgezahlt. Wer weiss, ob Vincenz und Stocker in ihrer Verteidigung daraus am Ende noch Nutzen ziehen werden.
Die eklatante Dreistigkeit, mit der im Raiffeisen-Komplex alle Akteure gehandelt haben, hat in dem medial stark vorgespurten Prozess die vielleicht trügerische Erwartung in der Öffentlichkeit genährt, dass die Staatsanwaltschaft mit ihren ehrgeizigen Strafanträgen ein leichtes Spiel haben wird. (saw/aargauerzeitung.ch)
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