Müsste man sich die geografische Antithese eines kriegsgebeutelten Dorfes in der Ukraine ausmalen, das Ergebnis sähe wohl aus wie Trogen im Kanton Appenzell-Ausserrhoden.
Das 1900-Seelen-Dorf könnte eine Retortenstadt sein, geplant von findigen Marketing-Spezialisten, die Touristen in die Schweiz locken wollen. Kuhglocken läuten, die Wiesen sind saftig und von gelb leuchtenden Butterblumen übersät, Kinder fahren auf Trottinetts und Fahrrädern durch das Dorf, in blauer Ferne schimmert der Alpstein mit dem Säntis.
Etwas weiter oben im Dorf, idyllisch auf einem Hügel gelegen, befindet sich das Kinderdorf Pestalozzi. Gebaut während des Zweiten Weltkriegs als Heim und Ausbildungsstätte für Waisenkinder, beherbergt es momentan 91 Geflüchtete aus der Ukraine.
Der Kanton Appenzell-Ausserrhoden hat gemessen an seiner Bevölkerung schweizweit am meisten Schutzsuchende aufgenommen. 572 sind es an der Zahl. Das entspricht mehr als einem Prozent der gesamten Bevölkerung. Über 80 Prozent davon leben derzeit in privaten Unterkünften, zum Beispiel bei Gastfamilien. Oder im Kinderdorf Pestalozzi. Dieses fungiert seit Kriegsbeginn als Anlaufstelle für Schutzsuchende. Neuankömmlinge werden hier untergebracht, bis der Kanton sie an eine Gemeinde zuweisen kann.
Das Kinderhilfswerk ist dabei Fluch und Segen zugleich. Einerseits verhinderten private Initiativen wie diese bis anhin wohl das totale Chaos bei der Unterbringung der Schutzsuchenden, andererseits hat es sich in der ukrainischen Diaspora schnell herumgesprochen, dass das Kinderdorf Geflüchtete aufnimmt. Das führt zu immer mehr Menschen, die von sich aus nach Trogen kommen und den Kanton so vor grosse Herausforderungen stellen.
Christine Schraner Burgener, die Direktorin des Staatssekretariats für Migration (SEM), sieht das anders. Für sie ist das Kinderdorf das beste Beispiel für die funktionierende Zusammenarbeit innerhalb des Geflechts an Bund, Kanton, Gemeinde und Privaten.
Die ehemalige Botschafterin und UNO-Sondergesandte läuft an diesem Donnerstagnachmittag im festlichen, dunkelblauen Kleid durch das Kinderdorf, gefolgt von einer Entourage an Journalistinnen und Journalisten. Sie will sich ein Bild der Lage machen, wie sie selbst sagt. «Ich wollte das Kinderdorf schon immer mal kennenlernen.»
Sie läuft vorbei an den alten Gemeinschaftshäusern, in denen die Schutzsuchenden leben, gleich neben ihr: Martin Bachofner. Der Geschäftsleiter des Kinderdorfes Pestalozzi erklärt, dass bis zu 30 Leute gemeinsam unter einem Dach wohnen und sich Küche und Bad teilen müssen. Das führe zwangsweise zu Spannungen, auch wenn sich die Bewohner mehrheitlich gut verstehen. «Einige Bewohnerinnen und Bewohner haben angefangen, Kosmetika oder Lebensmittel, die wir abgeben, zu horten. Oder das Badezimmer zu besetzen. Die Privatsphäre hier ist sehr klein.»
Bachofner selbst sieht sich derzeit als eine Art Hüttenwart und vergleicht das Kinderdorf mit den Unterkünften des Schweizer Alpenclubs SAC. Es würden alle möglichen Individuen hier zusammentreffen, gross und klein, dick und dünn, alt und jung. Der älteste Gast im Dorf ist 92 Jahre alt. Der jüngste wenige Tage. «Vorgestern ist das erste Kinderdorf-Baby zur Welt gekommen», sagt er schon fast stolz.
Eine dieser Bewohnerinnen ist Marina Hryshai. Bereits Anfang März ist sie mit ihrer einjährigen Tochter Mariia und Mutter Valentiyna nach Trogen gekommen, sie gehörten zu den ersten im Dorf. Sie spricht Englisch und hat sich bereit erklärt, mit den anwesenden Journalisten zu sprechen. Doch es ist die SEM-Direktorin, die medienwirksam das Interview führt.
Christine Schraner Burgener setzt sich mit Marina Hryshai an den Holztisch, Töchterchen Mariia spielt mit den Mikrofonen, die Grossmutter Valentiyna serviert Tee. Die junge Ukrainerin erzählt, wie sie aus Kiew flüchtete und dank Tipps ihrer Freunde im Kinderdorf Pestalozzi landete. Ihr Bruder musste bleiben, könnte jederzeit an die Front geschickt werden, andere Mitglieder der Familie seien in Polen. Wie es für sie weitergeht, ist nicht klar. Normalerweise bleiben die Schutzsuchenden nur zwei bis drei Wochen im Kinderdorf, doch Marina Hryshai und ihre Familie haben noch keine Unterkunft gefunden.
So heil, wie die Welt an diesem Medienanlass präsentiert wird, ist sie nicht. Das Kinderdorf steht sinnbildlich für die Herkulesaufgabe, die Bund und Kantone momentan zu meistern haben. Geschäftsleiter Martin Bachofner erklärt, dass die Unterbringung der Schutzsuchenden bis jetzt von Spendengeldern finanziert wurde, obwohl dies eigentlich die Aufgabe des Staates wäre. Rund 100 Franken kostet die Beherbergung einer Person insgesamt pro Tag.
Mittlerweile hat man sich mit dem Kanton auf einen Leistungsvertrag geeinigt, das Kinderdorf wird rückwirkend entschädigt und gilt nun als offizielle kantonale Unterkunft. Damit institutionalisiert man zu einem gewissen Grad die Anstrengungen von Privaten, die den Behörden mittlerweile ein Dorn im Auge geworden sind. Man sei zwar froh um die Solidarität, aber «Städte und Gemeinden sind eher gegen die Unterbringung von Geflüchteten bei Privaten, weil sie so den Überblick verlieren», sagt Schraner Burgener.
Dass die Flut an Schutzsuchenden – mittlerweile sind fast 50'000 Personen in die Schweiz eingereist – ohne die Unterstützung von NGOs und Gastfamilien hätte bewältigt werden können, davon ist Schraner Burgener überzeugt. Auch, wenn die Bundesasylzentren im Land nur 9000 Betten zur Verfügung haben. «Mit dem S-Status wäre es uns möglich gewesen, die Geflüchteten praktisch sofort an die Kantone zu verteilen.» Ob dies tatsächlich so reibungslos funktioniert hätte, sei dahingestellt. Mit der technischen Umsetzung des S-Status haperte es in den ersten Wochen gewaltig, die Behörden kamen teilweise kaum nach mit den Gesuchen.
Doch die SEM-Direktorin sieht andere Gründe darin, wieso die überwiegende Mehrheit der Schutzsuchenden bei Privaten unterkommt. Sie sagt, es sei ein bewusster Entscheid gewesen: «Es hätte einen Aufschrei in der Bevölkerung gegeben, wenn wir es den Leuten, die helfen wollen, nicht erlaubt hätten, ihre Wohnungen zur Verfügung zu stellen. Die Bevölkerung hätte das nicht goutiert.»
So oder so – vor zwei Wochen hat das SEM den Verteilschlüssel aktiviert. Dieser besagt, dass Flüchtende proportional zur Bevölkerung auf die Kantone aufzuteilen sind. Für den Kanton Appenzell-Ausserrhoden bedeutet das vorübergehend einen Zuweisungsstopp, bis das Gleichgewicht gemäss Verteilschlüssel wieder hergestellt ist.
Wie viele Flüchtende die Schweiz noch verkraftet, darüber wollte sich Schraner Burgener nicht äussern. Das SEM erwartet bis im Herbst 80'000 bis 120'000 Geflüchtete in der Schweiz. «Wir haben keine andere Wahl, als diese Zahl zu bewältigen. Polen hat über drei Millionen Menschen aufgenommen, und die schaffen das auch.»
Für Martin Bachofner ist deswegen klar, dass auch weiterhin Menschen aus der Ukraine ins Kinderdorf Pestalozzi kommen können. Ob von den Bundesasylzentren zugeteilt oder nicht. «Solange wir helfen können, werden wir das tun.»
Ja, klar. Was den sonst?
Ich hätte ab und zu auch gern so ein Selbstvertrauen. Oder ist es eher Selbstüberschätzung? 🤔
Und nun scheint es irgendwie ein Misstrauen zu geben: Behörden versus Privatpersonen. Keine gute Entwicklung. Aus meiner Sicht wäre es schlecht, falls SEM/Kantone nun mit der Brechstange versuchten, die Privatpersonen an die Kandare zu nehmen und allenfalls aktiv Ukrainerinnen umteilen.
Was die Initiantinnen und Initianten der Aktion nie erfahren haben:
Beim Eingang ins Zentrum wurden alle Päckchen eingesammelt und komplett entsorgt, vor den Augen der irritierten Asylsuchenden.
Auch alle Initiativen von Freiwilligen, die Aufenthaltszeit der Asylsuchenden zu verbessern, z.B. durch Ausflüge, Erläutern der Umgebung/ des ÖV etc., Deutschkurse, gemeinsamen Sport usw. wurden komplett boykottiert.
Begründung: Da die Asylsuchenden noch nicht den Kantonen zugeteilt wären, sollten sie sich noch nicht zu wohl fühlen und auch noch nicht integrieren…