Eine gute Möglichkeit, das Viertel Prélaz kennenzulernen, ist, sich an die Bushaltestelle zu setzen und die Menschen zu beobachten. Es ist ein Unterstand, wie es Dutzende davon in Lausanne gibt – mit dem Unterschied, dass dieser am Sonntag Schauplatz der Verfolgungsjagd und des tödlichen Rollerunfalls des 17-jährigen Marvin war.
Wenige Stunden später kam es zu einer Reihe von Ausschreitungen, bei denen Mörsergranaten, Feuerwerkskörper, Tränengas und Polizeikontrollen zum Einsatz kamen.
Am Dienstagmorgen, nach einer erneut unruhigen Nacht, scheint sich die Bushaltestelle zu ducken, als würde sie eine neue Salve von Schlägen erwarten. Gegen Mittag herrscht jedoch eine friedliche Atmosphäre in diesem Viertel, das nur wenige Minuten vom Stadtzentrum von Lausanne entfernt liegt – man könnte fast meinen, es sei überhaupt nichts geschehen.
Rot-weisse Trassierbänder, ein Trottoir, welches wie eine Lippe nach einem Faustschlag zerplatzt ist, und geschmolzener Beton sind die einzigen Spuren, die auf die Ereignisse des Vortags hindeuten.
Prélaz. Ein ruhiges und hübsches Wohnviertel, in dem Menschen aller Herkunft und Religionen zusammenleben. Quadratische, moderne Wohnhäuser stehen neben Gebäuden aus dem 20. Jahrhundert. Ein frisch renovierter Coop flankiert die Apotheke und eine Kindertagesstätte. Ein Coiffeur hier, ein Metzger dort, Lebensmittelgeschäfte, die die ganze Woche über geöffnet sind, ein Fahrradgeschäft und ein vietnamesisches Restaurant. Das Café de Prélaz, das Liebhaber des Sonntagsbrunchs begeistert, scheint all dies von der Strassenecke aus zu beobachten.
Es ist eine Strasse, die man zum Joggen nutzen kann, ohne darüber nachzudenken – das ist bei weitem nicht überall in Lausanne der Fall.
Zu beobachten sind das Treiben der Hausfrauen mit ihren Einkaufstüten unter dem Arm, der Arbeiter, die eine Zigarette rauchen und den Verkehr beobachten, der Kinder, die auf der Schaukel spielen. Ihr fröhliches Lachen schallt durch die Luft.
Gruppen von Teenagern unterhalten sich, während sie auf den Bus warten, der sie nach der Mittagspause zurück zur Schule bringt. Natürlich ist Marvins Name in aller Munde. Vor allem nach den Ereignissen der vergangenen Nächte. Gegenüber einer Journalistin zeigen sie sich nicht besonders gesprächig.
Einer von ihnen brummt aber:
«Die, die nichts sagen, sind diejenigen, die am meisten wissen», flüstert uns eine Frau aus der Gegend zu, die an einer Strassenecke steht und ihre Einkaufstasche hinter sich herzieht.
Einige Jugendliche kamen, um sich die Unruhen anzusehen, die ihr Viertel erschütterten. Anderen hatten die Eltern verboten, vor die Tür zu gehen. «Ich wäre gerne hingegangen. Aber meine Mutter hatte zu viel Angst», erklärt eine Schülerin mit einem Achselzucken, bevor sie in den Bus Nr. 18 springt.
Nur wenige Schritte entfernt, im Coffee Corner, einem hellen modernen Café, wo man ein mit Himbeeren gefülltes Croissant und einen Matcha naschen kann, mischt sich Unverständnis in den Kaffeeduft. Die Kellnerin, die in der Nachbarschaft wohnt, serviert uns einen Espresso und schildert ihre Eindrücke an der Theke.
Zuerst dachte sie, es sei ein Feuerwerk. «Etwas, das mit dem Leichtathletik-Meeting Athletissima zu tun hat, wie letzte Woche», vermutete sie. Das war, bevor ihr Freund mit dem Auto durch Prélaz fuhr und sie darüber informierte, was wirklich los war.
Abgesehen von einem Kratzer in einer Ecke der Vitrine gibt es im Coffee Corner keine Schäden zu verzeichnen. Nun hofft die Barista, dass in dieser Strassenecke, die sie sehr mag und in der sie sich nie unsicher gefühlt habe, wieder alles normal wird. Als wir uns mit unserem Kaffee in der Hand auf den Weg zum Ausgang machen, ruft sie hinterher: «Seien Sie vorsichtig, wenn Sie heute Abend wiederkommen! Man kann ja nie wissen.»
Prélaz. Ein Ort, an dem nie etwas passiert ... oder besser gesagt, nur «positive» Dinge, sagt Claude Ansermoz, ehemaliger Chefredakteur von «24 Heures» und seit zwölf Jahren hier ansässig. «Jedes Jahr organisiert ein Verein ein grosses Nachbarschaftsfest, das für alle offen ist und einen Hauch eines Dorffestes hat.»
«Es ist auch ein Stadtteil mit einer enormen sozialen Vielfalt. Gemeinschaften, die sich nicht unbedingt vermischen, aber friedlich und auch in einer gewissen gegenseitigen Gleichgültigkeit zusammenleben», beschreibt er uns am Dienstag am Telefon.
Für ihn sind die Unruhen nicht unbedingt auf das Quartier Prélaz beschränkt. Das zeigen auch die Ereignisse in der Dienstagnacht, wo es auch in anderen Quartieren kurzzeitig zu Scharmützeln kam. Ansermoz sagt:
Nur eben: Der junge Marvin war hier am Sonntag im Morgengrauen mit dem gestohlenen Roller unterwegs, als er die Kontrolle über diesen und damit sein Leben verlor.
Claude Ansermoz bestreitet zwar nicht die Schwere der Ereignisse, die das Viertel erschütterten und die er am Montagabend mit eigenen Augen gesehen hat, er weist aber darauf hin, dass die auf den Bürgersteigen versammelte Masse eher aus neugierigen Zuschauern und Anwohnern bestand denn aus Randalierern, die Chaos verursachen wollten.
Der ehemalige Paris-Korrespondent weist die Vergleiche mit den französischen Vororten, den berüchtigten «Banlieues» vehement zurück, die in den Medien und in den sozialen Netzwerken gezogen wurden.
Prélaz wiederum sei ein mit dem Stadtzentrum verbundenes Viertel, das von nichts abgeschnitten ist. «Alle Nachbarn, die ich in den letzten Stunden getroffen habe, haben keinerlei Absicht, dieses Viertel zu verlassen», so der Journalist.
Dennoch stellt Ansermoz klar: «Lausanne ist nicht mehr das, was es vor dreissig Jahren war. «Es ist eine wachsende Stadt und sie steht heute vor den gleichen Problemen wie andere Grossstädte. Sie muss Lösungen finden, ohne ihre Dynamik zu verleugnen.»
Gruss von jemandem der rassismus verabscheut sich aber trotzdem so seine gedanken macht.