Fahrleitungsstörungen, Zugausfälle, defekte Türen: Die Züge der SBB sind weniger pünktlich unterwegs als in den vergangenen Monaten. Im Oktober betrug die Zugspünktlichkeit, die angibt, wie viele Züge mit weniger als drei Minuten Verspätung verkehren, über das gesamte Netz 90.6 Prozent – deutlich unter dem Wert des letzten Jahres.
Doch warum sind Züge unpünktlich – und was unternimmt die Bahn dagegen? CH Media hat mit David Fattebert gesprochen. Der Westschweizer ist Leiter Kundenpünktlichkeit bei den SBB und verantwortlich für die Einhaltung des Fahrplans.
«Die Faktoren für Verspätungen sind vielseitig», sagt Fattebert. «2021 sind wir bei der Pünktlichkeit auf Kurs. Im November haben wir aufgrund der Witterungsverhältnisse jedoch mehr Probleme mit der Pünktlichkeit als im Rest des Jahres». Bei Feuchtigkeit schalte sich beispielsweise der Gleitschutz der Lokomotive Re 460 ein und die Produktivität auf den Baustellen lasse nach, was zu verspäteten Streckenfreigaben führt.
Sogenannte Ereignisse – also defekte Züge, Fahrleitungsstörungen oder Türen, die klemmen – wurden bisher als wichtigster Hebel gesehen. Das soll sich ändern. Zwar sind tatsächlich etwa 7 Prozent aller Züge wegen Ereignissen verspätet, und es sei wichtig, diese so weit wie möglich zu minimieren, sagt Fattebert. Um die Bahn pünktlicher zu machen, will er den Fokus aber verschieben.
Denn: «Wir werden uns hier nicht massiv verbessern können. Die Bahn ist ein technisches Umfeld. Einen zu 100 Prozent fehlerfreien Bahnbetrieb werden wir nie haben.» Klar, die SBB könnten mit viel Geld die tägliche Zahl der zehn Türstörungen halbieren, sagt Fattebert. «Aber das wäre für die Kundinnen und Kunden nicht einmal spürbar.»
Stattdessen will er sich auf die «Robustheitsebene» konzentrieren. Über 20 Prozent der SBB-Züge sind mit einer Verspätung zwischen einer und drei Minuten unterwegs. Sie gelten offiziell nicht als verspätet – aber die Folgen solcher Verzögerungen sind immens. «Wenn ein Zug nur schon 60 Sekunden zu spät unterwegs ist, hat er keine Reserve mehr», sagt Fattebert. «Auf Strecken mit Zugfolgezeiten von 90 Sekunden hat das sofort Einfluss auf das gesamte Bahnsystem.»
Ein robustes Netz aufzubauen, ist komplex. Die Fahrpläne, die Personaldisposition, das Rollmaterial mit seinen Beschleunigungs-Eigenschaften und die Verfügbarkeit der Infrastruktur spielen eine Rolle. Wie die verschiedenen Faktoren zusammenspielen, wissen die SBB nicht. «Es gibt sehr viele Wechselwirkungen», sagt Fattebert. «Wir können sie nicht simulieren oder modellieren. Vielleicht gelingt uns das mit künstlicher Intelligenz in Zukunft, aber wir sind noch nicht soweit».
Ein weiteres Problem ist, dass Investitionen in die Pünktlichkeit nicht sonderlich beliebt sind. «Wenn wir zusätzliche Perrons bauen wollen, um das Angebot robuster zu machen, kostet das viel Geld, ohne zusätzliche Angebote zu ermöglichen. Hier müsste in der Politik ein Umdenken stattfinden», sagt Fattebert. «Wir müssen viel Überzeugungsarbeit leisten.»
Positive Beispiele gibt es. So ist der Regionalverkehr in der Region Ost mit der Zürcher S-Bahn deutlich pünktlicher als anderswo in der Schweiz, weil hier massiv investiert wurde. Dieses Jahr verkehren dort bisher 96.9 Prozent der Züge pünktlich. Das sei das Resultat von 20 Jahren Planung, sagt Fattebert.
«Der Kanton Zürich hat Investitionen in die Infrastruktur vorfinanziert, das richtige Rollmaterial beschafft und geschaut, dass der Güter-, Fern- und Regionalverkehr auf der Schiene so gut wie möglich getrennt werden.» Es seien aber auch Fahrzeiten «auf Basis der Realität» angepasst worden. So sind in den vergangenen Jahren die Fahrzeiten mehrer Linien verlängert worden. Mit den steigenden Kundenzahlen war der Fahrplan immer schwieriger einzuhalten.
Wird die Fahrzeit verlängert, fallen weitere Investitionen an. Im Kanton Zürich etwa mussten die Fahrpläne der Busse umgestellt werden, die Anschluss auf die S-Bahnen bieten. Das löste einen Mehrbedarf an Fahrzeugen aus, den der Kanton ebenfalls übernehmen musste.
Trotzdem sieht Fattebert Fahrzeitverlängerungen in der ganzen Schweiz als mögliches Mittel an. Der gesamte SBB-Fahrplan wird derzeit analysiert, schon 2024 könnten auf ersten Linien neue Fahrzeiten resultieren. Der Nachteil: Wenn Züge etwa in einem grossen Bahnhof eine Minute früher abfahren, um mehr Fahrzeit auf der ganzen Linie zu haben, sind gewisse Anschlüsse nicht mehr garantiert. Die SBB analysieren deshalb auch andere Massnahmen. Dazu gehören:
Ein Trugschluss ist laut Fattebert, dass neue Technologie zu mehr Pünktlichkeit führt. Exemplarisch zeigt sich das am neuen Zugsicherungssystem ETCS. Das führt laut Analysen der Bahn sogar zu längeren Fahrzeiten. «Die Lokführer sind mit ETCS konservativer unterwegs», sagt Fattebert. Sie bremsen früher, um nicht vom System übersteuert zu werden. Ein weiteres Beispiel sind Elemente zum Energiesparen, die in modernen Loks verbaut werden. «Sie nehmen einen Teil der Kraft weg», sagt Fattebert. «Die Beschleunigungsleistung sinkt.»
In den nächsten Jahren rechnet die Bahn mit steigenden Bauvolumen, mehr Fahrgästen und längeren und schwereren Zügen, die weniger schnell beschleunigen. Es sind zusätzliche Herausforderungen für die Pünktlichkeit. Die eine Lösung gibt es nicht. Fattebert ist optimistisch. «Die Wichtigkeit und Komplexität des Themas wurde erkannt», sagt er. «Die Pünktlichkeit ist nach der Sicherheit die wichtigste Kennzahl. Das ist allen klar.» (aargauerzeitung.ch)
Mandalayon
Japan hat komplett getrennte Anlagen für Nah- und Fernverkehr, und relativ wenig Güterverkehr; ein Güterzug kann z.B. nie einen Shinkansen ausbremsen. Unser Mischverkehr (Nah, Fern und Güter auf derselben Infrastruktur) führt gezwungenermassen zu einer höheren Fragilität im Fahrplan. Kommt hinzu, dass Japan anders als die Schweiz keine Langsamfahrstellen kennt und Bauarbeiten praktisch nie im laufenden Betrieb durchgeführt werden.
Ja,es gibt Probleme bei der SBB, aber insgesamt macht sie ihren job aus meiner Sicht gar nicht so schlecht.
Frechsteiner
Knut Knallmann