Hat Gott uns den Glauben eingepflanzt oder steckt er in den Genen?
Der Glaube an übersinnliche Phänomene ist eines der grossen und ungelösten Rätsel der Menschheit. Unbestritten ist, dass wir Menschen seit Tausenden von Jahren an Gott oder höhere Mächte glauben.
Der Startschuss fiel, als das menschliche Hirn seine Neuroplastizität auf unerklärliche Weise in kurzer Zeit steigerte. Dadurch wurden Kapazität und Bewusstsein erweitert.
Aus Unkenntnis Sonne und Mond angebetet
Trotzdem konnten unsere Urahnen die Ursachen und Zusammenhänge von Bedrohungen wie Seuchen, Erdbeben, Stürme und Überschwemmungen nicht erklären. Als Urheber machten sie übernatürliche Kräfte am Firmament aus, vor allem Sonne und Mond. Also beteten sie die Gestirne an.
Später wurden diese von vermuteten Geistern und Göttern abgelöst. Seither glauben weltweit praktische alle Stämme, Sippen und Gesellschaften an religiöse oder spirituelle Phänomene.
Heute ist unbestritten, dass der religiöse Glaube eine Grundkonstante des menschlichen Bewusstseins ist. Ähnlich wie die Fähigkeit des Denkens und Sprechens.
Für viele Gläubige und Geistliche ist dies ein indirekter Gottesbeweis: Wenn alle Kulturen unabhängig voneinander auf die Gottesidee gestossen sind, muss eine höhere Macht im Spiel sein.
Strenggläubige Christinnen und Christen, die an den Kreationismus glauben, sind überzeugt, dass Gott uns beim Schöpfungsakt den Glauben eingepflanzt hat.
Heute können Wissenschaftler verschiedener Richtungen das Phänomen des religiösen Bewusstseins teilweise erklären. Die meisten sind sich einig, dass sich der spirituelle Glaube über all die Jahrhunderte ins kollektive Bewusssein eingegraben hat.
Der ursprüngliche Glaube, dass höhere Mächte den Lauf der Welt bestimmten, verankerte sich offensichtlich in den Genen. Hinzu kommt, dass der Glaube auch evolutionäre Vorteile hat, förderte er doch das Überleben und den Zusammenhalt von Gruppen. Gleichzeitig minderte er die Angst vor dem Tod.
Bleibt die Frage, weshalb der Glaube unterschiedliche Ausprägungen angenommen hat. Warum pflegen Naturvölker oft einen animistischen Glauben? Weshalb ist in gewissen Weltgegenden der Glaube an eine vielfältige Götterwelt verbreitet, wie zum Beispiel beim Hinduismus? Warum entwickelte sich der Monotheismus wie bei den Buchreligionen Christentum, Judentum und Islam?
Die Antwort ist eindeutig: Der religiöse Glaube veränderte sich parallel zur geistigen und kulturellen Entwicklung. Ein Beispiel: Astronomische Erkenntnisse machten unseren Urahnen klar, dass die Sonne kein Gott sein kann.
In den Genen verankert
Das bedeutet auf einen Nenner gebracht: Die Idee eines spirituellen Glaubens ist tief in unseren Genen verankert, die Ausgestaltung der religiösen Konzepte und Lehren ist hingegen wandelbar und abhängig von der geistigen Entwicklung einer Gesellschaft. Primär vom sozialen Umfeld - vor allem dem Elternhaus -, den kulturellen Einflüssen und den persönlichen Erfahrungen. Religiöse Überzeugungen und Praktiken werden also erlernt.
Somit können wir den Schluss ziehen, dass der Glaube nicht von Gott oder mehreren Göttern stammt, sondern von uns Menschen entwickelt wurde und einem urmenschlichen Bedürfnis entspricht, das in uns angelegt ist.
Deshalb liegt auch der Schluss nahe, dass der Mensch Gott erfunden hat. Und nicht Gott den Menschen erschaffen.
Der deutsche Biologiehistoriker Thomas Junker schreibt in seiner Abhandlung «Warum sind Menschen religiös?», dass manche evolutionäre Psychologinnen und Soziobiologen von der These ausgehen, dass der Glaube einen Selektionsvorteil habe, der mit religiösen Gefühlen und Verhaltensweisen verbunden sein könnte.
Religion als biologische Anpassung wie die Federn des Paradiesvogels
Sie betrachteten die Religiosität als eine biologische Anpassung, die sich wie die Federn eines Paradiesvogels entwickelt hätten. Und wörtlich: «Sowohl in den hirnphysiologischen als auch in den evolutionsbiologischen Ansätzen wird völlig davon abgesehen, ob die jeweiligen Glaubenssätze richtig oder falsch sind, und ob es Götter gibt oder nicht. Der Gottesglaube kann also durchaus ein Wahn sein, aber er ist eben vielleicht ein biologisch nützlicher Wahn.»
Junker fasst zusammen: «Die Idee ist, dass religiöser Glaube, ähnlich wie Ernährung oder Sexualität, Teil der menschlichen Natur ist und sich evolutionär bewährt hat.»
Der amerikanische Biologe, Evolutionsexperte und Autor Edward O. Wilson ist ebenfalls überzeugt, dass Moral und Religion eine biologische Grundlage haben und evolutionär erklärbar sind. Die moralischen Regeln würden autoritär vorgegeben. Dies erhöhe aber die Missbrauchsgefahr.
Der Glaube scheint also mehr mit evolutionären und genetischen Prozessen zu tun zu haben als mit Göttern. Wissenschaftliche Erkenntnisse haben sie entzaubert.
Mit seinem Blog bedient Hugo Stamm seit Jahren eine treue Leserschaft mit seinen kritischen Gedanken zu Religion und Seelenfängerei.
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