Berlin, Paris oder Wien haben es, aber auch Kiel, Kopenhagen und Genf: Ein Angebot des öffentlichen Verkehrs rund um die Uhr an sieben Tagen in der Woche. In der Deutschschweiz stellen die Züge, Busse und Trams ihren Betrieb meist gegen Mitternacht ein und machen bis etwa sechs Uhr morgens Pause. Nur an Wochenenden werden Nachtlinien angeboten.
Das könnte sich ändern. Wie CH Media vergangenes Jahr berichtete, prüft die Stadt Zürich, ob ein Nachtnetz unter der Woche möglich wäre. Ein Vertreter der Verkehrsbetriebe sagte an einer Sitzung der Regionalen Verkehrskonferenz vom 14. Mai 2024, das Bedürfnis danach steige. Das zeige die Zahl der Rückmeldungen aus der Bevölkerung zu diesem Thema «eindrücklich». Auch der übergeordnete Zürcher Verkehrsverbund (ZVV), der für das gesamte ÖV-Angebot im Kanton Zürich verantwortlich ist und auch Gemeinden in angrenzenden Kantonen wie Aargau oder St.Gallen bedient, arbeitet an Studien zum Thema. Erste Zwischenergebnisse zeigten vor einigen Monaten, dass das Potenzial grundsätzlich vorhanden ist.
An einem Mobilitätskongress in Luzern vom 16. April hat sich nun Christian Vogt, der Leiter der Verkehrsplanung beim ZVV, zur Thematik geäussert. Nachdem das Nachtnetz an Wochenenden im Jahr 2022 «sehr erfolgreich» ausgebaut wurde, sei die Frage, welcher Schritt als nächster folgen könnte. Seine Antwort: ein Nachtnetz unter der Woche.
Die Frage sei, ob das Potenzial gross genug sei, schliesslich handle es sich beim öffentlichen Verkehr um eine Bündelung der Nachfrage. Um die Nachfrage abschätzen zu können, habe der ZVV die Verkehrsmengen auf den Strassen angeschaut. Dort seien unter der Woche zwar «viel weniger Leute» unterwegs als an Wochenenden, so Vogt. Im Vergleich zur Nacht von Samstag auf Sonntag seien es 25 bis 30 Prozent. Aber: «Das ist eine Grössenordnung, in der wir es uns überlegen können, etwas zu machen».
In den Wochenendnächten sind etwa 80 Prozent der Nutzerinnen und Nutzer der Nachtzüge und Nachtbusse im ZVV Freizeitreisende, beim Rest handelt es sich um Menschen auf dem Weg zur oder von der Arbeit. Bei einem Nachtnetz unter der Woche dürfte der Anteil der Berufstätigen höher sein.
Für einen 24-Stunden-Betrieb spricht laut Vogt, dass damit der öffentliche Verkehr generell attraktiver wird. Wenn dessen Kundinnen und Kunden wissen, dass er immer zur Verfügung steht, könnte das «den einen oder anderen» dazu bewegen, das Auto stehenzulassen. Zudem gehe es auch um die Attraktivität von Grossstädten.
Das ZVV-Nachtnetz wird derzeit von etwa 30'000 Passagieren pro Nacht genutzt. Es ist von Freitag auf Samstag, von Samstag auf Sonntag und in Nächten vor Feiertagen in Betrieb. Zwischen 2019 und 2023 nahmen die Nutzungszahlen um rund 60 Prozent zu, was neben dem Ausbau des Angebots auch an der Abschaffung des Nachtzuschlags von 5 Franken liegen dürfte. Dadurch werden laut Vogt vor allem auf kürzeren Distanzen in der Stadt Zürich mehr Fahrten mit dem ÖV zurückgelegt.
Würde ein Nachtnetz werktags einen Viertel dieser Nutzungszahlen erreichen, entspräche das etwa der Zahl der Passagiere, die das Wochenende-Nachtnetz im Jahr 2007 zählte. Eingeführt worden war es im Jahr 2003. Detailliertere Pläne gibt es beim ZVV aber noch nicht, eine Einführung wäre wohl frühestens ab 2028 realistisch.
Auch die Frage, welche Linien bedient werden könnten, ist noch offen. Es lägen noch keine Entscheide oder Ergebnisse vor, heisst es auf Anfrage beim ZVV. Er werde «zum gegebenen Zeitpunkt» informieren. Das Nachtnetz werde laufend überprüft und ausgebaut, wo Marktchancen bestünden, wobei auch die Ausdehnung auf zusätzliche Wochentage ein Thema sei, sagt Sprecherin Lucia Frei.
Tendenziell dürfte die Nachfrage in der Stadt Zürich am höchsten sein – etwa zur Erschliessung von Ausgehmeilen wie der Langstrasse und von grossen Arbeitgebern mit Schichtbetrieb. Heute können etwa Angestellte von Bäckereien, von Logistikbetrieben oder von öffentlichen Diensten wie der Stadtreinigung ihren Arbeitsplatz oft nicht mit dem öffentlichen Verkehr erreichen. Andererseits generiert auch der Flughafen Zürich frühmorgens eine relativ grosse Nachfrage.
Denkbar ist auch, dass in einem ersten Schritt ein Nachtnetz in der Nacht von Donnerstag auf Freitag eingeführt wird, weil dann bereits mehr Menschen in den Ausgang gehen. Klar ist auch: In der Deutschschweiz ist Zürich ein Einzelfall. In der Region Lenzerheide wird zwar ebenfalls ein 24/7-Betrieb geboten, aber nur in der Wintersaison. In Basel, Luzern und Bern hingegen sehen die Verantwortlichen keine genügende Nachfrage, um darüber nachzudenken.
Anders sieht es im Kanton Genf aus. Seit Dezember 2024 fahren dort die S-Bahnen zwischen Genf und Chêne-Bourg sowie zwischen Genf und La Plaine im 24/7-Betrieb. Eine Einschätzung zum Erfolg will das zuständige Genfer Amt auf Anfrage von CH Media noch nicht abgeben. Die Zahlen müssten noch konsolidiert werden, teilt es mit. Zudem könne erst nach einer längeren Zeit ein Fazit gezogen werden, weil sich die Nutzungsgewohnheiten der Reisenden nicht sofort änderten.
Das Angebot werde per Dezember ausgebaut, indem die Nachtzüge nicht mehr in Chêne-Bourg enden, sondern bis Annemasse weiterfahren. Damit werde seine Aktivität gesteigert. Nach einem Grosserfolg tönt die Rückmeldung aus Genf auf jeden Fall noch nicht.
Wo kein Angebot besteht, kann es auch keine Nachfrage geben...