Die ersten Maschinen sind in Zürich-Stadelhofen bereits aufgefahren. Bauarbeiter haben in den vergangenen Wochen fast unbemerkt von Zehntausenden täglichen Bahnpassagieren einen Stollen ausgehoben, der 23 Meter tief in den Berg führt. Er ist der erste Vorbote der geplanten Erweiterung des Bahnhofs.
Sie soll mehr Züge ermöglichen, steht aber stellvertretend für die Probleme des Bahnausbaus: Sie wird teurer und später fertig als geplant. 2019 ging der Bund von Kosten von 900 Millionen Franken und einer Inbetriebnahme Ende 2035 aus. Die aktuellste Prognose: knapp 1,2 Milliarden Franken Kosten, Eröffnung Ende 2037.
Das Projekt am Stadelhofen gehört zum Ausbauschritt 2035 (AS 2035), für den das Parlament nach mehreren Erhöhungen 16 Milliarden Franken bewilligt hat. Auch das wird nicht reichen. In einem neuen Bericht rechnet der Bundesrat mit knapp 20 Milliarden Franken Endkosten für die vom Parlament beschlossenen Projekte.
Das ist nicht alles: Ende 2024 zeigte sich, dass es weitere Ausbauten brauchen wird, um das versprochene Angebot umsetzen zu können. Das führt zu Mehrkosten von insgesamt 14 Milliarden Franken. Auch zeitlich sieht es düster aus: Die letzten Projekte dürften erst Mitte der 2040er-Jahre fertig werden.
Die Kostensteigerung hängt damit zusammen, dass die SBB 2021 nachgerechnet haben und merkten, dass frühere Annahmen zu optimistisch waren. Der Verzicht auf die Technologie für schnelles Kurvenfahren in den neuen FV-Dosto-Zügen sorgt zudem dafür, dass kürzere Fahrzeiten nicht dank moderner Züge möglich sind, sondern mit neuen Infrastrukturen erkauft werden müssen.
Bundesrat Albert Rösti (SVP) zog Anfang Jahr die Notbremse: Er beauftragte ETH-Professor Ulrich Weidmann damit, alle Projekte zu überprüfen. Weidmann soll grundsätzliche Fragen beantworten: Welche Ausbauten braucht es, auf welche könnte verzichtet werden, welche könnten später realisiert werden?
Die Sache ist verfahren. Jetzt treten Fachleute auf den Plan. Sie fordern, die Gelegenheit zu nutzen und den Ausbau zu überdenken. Zu ihnen gehört Philipp Morf, der Chef des Beratungsunternehmens Otimon. Er kritisierte mit Ex-SBB-Chef Benedikt Weibel den Ausbauschritt 2035 bereits früher. Morf fordert eine Rückbesinnung auf die ursprünglichen Ziele: die notwendigen neuen Verbindungen und zusätzlichen Sitzplätze per 2030 anzubieten, wie es Kantone und Bahnen gefordert hatten. Die nun dafür vorgesehenen Ausbauten würden zu spät kommen. Doch es gebe eine gute Nachricht: «Die meisten Ziele lassen sich auf der bestehenden Infrastruktur realisieren.»
Für Verbesserungen des Angebots würden immer gleich neue Infrastrukturen gefordert, sagt Morf. Besser sei es, mit den bestehenden Ressourcen rasch Nutzen zu stiften. Doch wenn die SBB auf Wünsche nach besseren Angeboten immer mit Forderungen nach Ausbauten reagierten, «muss man sich nicht wundern, dass die Politik diese als Lösung ansieht.»
Auf der bestehenden Infrastruktur könnten deutlich mehr Züge fahren. Die SBB hätten dies in der Westschweiz gezeigt. Per Ende 2024 haben sie dort einen neuen Fahrplan eingeführt, der 15 Prozent mehr und gemäss Bahn pünktlichere Züge brachte. «Die SBB haben damit bewiesen, dass sofort und ohne Ausbauten der Infrastruktur mehr Züge möglich sind», sagt Morf. «Ähnlich müssen sie im Rest des Landes vorgehen.» Auf der Verbindung Zürich-Winterthur etwa könnten Fernverkehrszüge nonstop via Wallisellen fahren. Damit könne die S-Bahn entlastet und der Knoten St.Gallen umgesetzt werden.
Statt aber solche Lösungen zu präsentieren, drückten die SBB einen Infrastrukturausbau durch, der das Gegenteil bringe: nicht mehr, sondern weniger Verbindungen. Während der zwanzigjährigen Bauzeit des AS 2035 würden Baustellenfahrpläne zu massiven Ausdünnungen und Verschlechterungen des Angebots führen. «Mit dieser unsinnigen Zwängerei handeln die SBB verantwortungslos», sagt Morf. «Die Bedürfnisse der Kundschaft werden ignoriert.» Immerhin habe der Bund diese Botschaft verstanden, das zeige die Überprüfung des Ausbaus.
Dass es Ausbauten brauche, stelle er nicht in Abrede. Aber: «Wenn die Bahn mit Investitionen von mehr als 30 Milliarden Franken kaum Marktanteile gewinnt, ist das Paket nicht ausgegoren.» Morf fordert, dass Investitionen stärker auf die Gewinnung von Marktanteilen ausgerichtet werden. «In den Agglomerationen um die Kernstädte wächst die Bevölkerung, die Bahn ist jedoch noch nicht darauf vorbereitet.»
Diese Kritik am Ausbau wird nicht von allen Fachleuten geteilt. Viele betonen die Wichtigkeit der Projekte. Nur mit ihnen könne die benötigte Kapazität geschaffen werden, um das Verkehrswachstum aufzufangen. In den vergangenen Monaten wehrten sich der frühere Chef des Bundesamts für Verkehr (BAV), Peter Füglistaler, Politiker und Fachleute der SBB gegen die Kritik.
Doch in einem Punkt können sie Morf kaum widersprechen: Es mangelt an Plänen für rasche Verbesserungen. Der Zürcher Verkehrsverbund (ZVV) etwa setzt darauf, dass alle Ausbauten realisiert werden. Sie seien «für ein stabiles und nachfrageorientiertes Gesamtkonzept zwingend erforderlich», sagt Sprecherin Lucia Frei.
Das Problem: Der ausgebaute Bahnhof Stadelhofen soll erst Ende 2037 in Betrieb gehen, der Brüttener Tunnel Ende 2035. Passagiere können über zehn Jahre lang nicht mehr mit wesentlichen Angebotsausbauten rechnen. Im Gegenteil: Die Bauarbeiten werden zu Einschränkungen führen. Zwar dürften einzelne kleine Ausbauten schon in den nächsten Jahren fertig werden. Sie bringen aber ohne den Rest nichts. «Es existieren keine Teilkonzepte, die mit einer reduzierten Anzahl Infrastrukturausbauten funktionieren würden», sagt Frei.
Auch andere Kantone setzen voll auf die Umsetzung des AS 2035 – oder sind in der Situation, dass ihre Wunschprojekte erst für einen späteren Ausbauschritt vorgesehen sind. Dazu gehören Luzern mit dem Tiefbahnhof und Basel-Stadt mit dem Herzstück. Je mehr Geld der AS 2035 verschlingt, desto weniger steht dafür zur Verfügung.
Im nächsten Ausbauschritt, den der Bundesrat 2027 dem Parlament unterbreiten will, dürften Reparaturmassnahmen im Vordergrund stehen, um den AS 2035 einigermassen zu retten. Er werde «darauf fokussiert» sein, das Konzept des AS 2035 «stabil produzieren zu können», schreibt der Bund.
Das hat Folgen. Das Basler Herzstück degradierte Bundesrat Rösti kürzlich an einer Veranstaltung zu einem Projekt in der Kategorie «Ausblick». «Da müssen wir mit uns selbst ehrlich sein», sagte er laut der «Basler Zeitung». Er wolle «nicht irgendwo in den Wolken politisieren».
Viele grössere Projekte sind zudem von der Überprüfung ausgenommen, wie Röstis Department am Freitag kommuniziert hat. Dazu gehört der Brüttener Tunnel. Die SBB haben denn auch schon einmal kommuniziert, dass die Züge zwischen Winterthur und Zürich ab Dezember mehr Fahrzeit brauchen. Der Grund dafür sind Bauarbeiten für das Milliardenprojekt.
Auf dem Prüfstand von Weidmann stehen hingegen Projekte wie der Ausbau im Bahnhof Stadelhofen. Im dritten Quartal soll der ETH-Fachmann seine Resultate präsentieren. Sie werden wegweisend sein für die Frage, ob es zu einem Umdenken kommt – oder ob der Bahnausbau weitergeht nach dem Motto «Augen zu und durch».(nib/aargauerzeitung.ch)