Selten hatte die Schweizer Eisenbahnwelt so viel Glück im Unglück wie am 10. August 2023. Ein Güterzug entgleiste im Gotthard-Basistunnel. Der Schaden im Tunnel war beträchtlich. Die Fahrbahn musste auf 7 Kilometer Länge ersetzt werden. Die betroffene der beiden Röhren wurde gesperrt, Personenzüge ins Tessin und nach Italien monatelang umgeleitet. Die SBB schätzen den Schaden heute auf 150 Millionen Franken.
Doch immerhin: Menschen kamen keine zu Schaden. Wäre die Entgleisung nicht im Tunnel passiert, sondern auf offener Strecke oder in einer zweigleisigen Tunnelröhre bei einem entgegenkommenden Zug, hätte es ein Desaster geben können. Seither beschäftigt die Bahn und die Behörden eine Frage: Wie lässt sich ein solcher Unfall vermeiden?
Am Montag hat die Schweizerische Sicherheitsuntersuchungsstelle (Sust) ihren Abschlussbericht veröffentlicht. Ihre Erkenntnisse sollen dazu beitragen, dass sich ähnliche Ereignisse nicht wiederholen. Denn solche Vorfälle wurden seit 2019 in ganz Europa dutzendfach registriert.
Den Hergang des Unglücks hat die Sust schlüssig aufgearbeitet. Demnach brach etwa 10 Kilometer nach Einfahrt in den Tunnel ein Fragment der rechten Radscheibe des elften Wagens. In dieser hatten sich Risse gebildet. Daraufhin entgleiste die betreffende Achse. Der Zug war mit einer Geschwindigkeit von etwa 90 Kilometern pro Stunde unterwegs.
Zunächst blieb dieser Vorfall unbemerkt. Erst bei einer Multifunktionsstelle, an der ein durch ein Tor geschützter Spurwechsel in die andere Röhre führt, zerstörte die entgleiste Achse die Antriebe der Weichen. Das führte dazu, dass die darauffolgenden Wagen abgelenkt wurden und entgleisten. Das Schutztor wurde ebenfalls beschädigt.
Doch wieso kam es zu den Rissen? Bei ihren Merkmalen handle es sich um ein «systematisches Phänomen, das nicht auf einzelne Materialdefekte zurückgeführt werden kann», heisst es im Abschlussbericht.
Dass es zu Rissen kommt, ist zwar nicht ungewöhnlich. Die meisten von ihnen können erkannt und behoben werden. In diesem Fall aber waren die Risse senkrecht zur Lauffläche gewachsen, wie Philippe Thürler sagt, der Bereichsleiter Bahnen und Schiffe der Sust. Das sei ein «schwerwiegender Fehler».
Eine «thermische Überbelastung» – also Überhitzung beim Bremsen – habe zu den Rissen geführt, die über die Zeit weiter gewachsen seien. Diese Überlastung geht auf die eingesetzten Bremstypen zurück, die sogenannten LL-Bremssohlen.
Die Sust hat Sicherheitsempfehlungen und einen Hinweis erarbeitet. Drei davon richtet sie an die Eisenbahnagentur der Europäischen Union (ERA), die Vorgaben für ganz Europa erlassen kann, zwei an SBB Cargo und das hiesige Bundesamt für Verkehr. Die Sust empfiehlt der ERA etwa, Wartungsintervalle zu verkürzen und Prüfmethoden anzupassen. Moderne Methoden könnten solche Risse gut erkennen, sagt Thürler.
Doch trotz der grossen Gefahr fehlen verbindliche Vorgaben auf europäischer Ebene bis heute. Stephan Eder, der Leiter des Untersuchungsdienstes der Sust, hofft, dass der Druck auf die ERA steigt. Dafür gebe es Hinweise. Früher seien Radbrüche in anderen Ländern schnell abgetan worden. Das habe sich seit dem Unfall geändert. Schärfere Instrumente hat die Sust auf europäischer Ebene nicht, und Vorschriften nur für die Schweiz will Eder nicht empfehlen.
Alarmiert über den Bericht der Sust und über die daraus gezogenen Lehren zeigen sich die SBB, die den Unglückszug in der Schweiz geführt hatten, der die Wagen aber nicht gehörten. Das Unfallrisiko im Güterverkehr sei «zu hoch», schreiben sie am Montag.
Die Bahn fordert eine rasche Umsetzung der Sust-Empfehlungen. «Bis griffige behördliche Massnahmen zu Modernisierung und Unterhalt erlassen sind», würden sie schrittweise aus dem Transport von Güterwagen mit LL-Bremssohlen aussteigen. Der Grossteil des Ausstiegs erfolge bis Ende 2025.
Einen anderen Schluss zieht die Gewerkschaft des Verkehrspersonals SEV. «Ein grosser Unfall wie im Gotthard-Basistunnel könnte jederzeit wieder passieren», warnt sie am Montag. Sie fordert mehr Personal für Kontrollen. Mit sogenannten akustischen Kontrollen an Güterwagen, die heute nur selten durchgeführt werden, könnte die Sicherheit rasch erhöht werden. (aargauerzeitung.ch)
Wir haben Züge, die Städte und dicht bewohntes Gebiet queren, mit Tonnen von Chemikalien oder Brennstoffen!
Na dann warten wir doch am besten bis mal ein Güterzug ausserhalb eines Tunnels entgleist und ein entgegenkommender ausgelasteter IC nicht mehr bremsen kann...
immerhin will die SBB bis ende Jahr von diesen Wagen mit LL-Bremssohlen wegkommen.
Ich bin sprachlos.