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Gotthard-Basistunnel: SBB schlagen nach Entgleisung Alarm

Die Entgleisung des Güterzugs mit dreissig Wagen am 10. August 2023 im Gotthard-Basistunnel hinterliess eine Spur der Verwüstung.
Die Entgleisung des Güterzugs mit dreissig Wagen am 10. August 2023 im Gotthard-Basistunnel hinterliess eine Spur der Verwüstung.bild: Keystone

«Das Risiko ist zu hoch» – SBB schlagen nach Entgleisung im Gotthard-Basistunnel Alarm

Vor knapp zwei Jahren entgleiste ein Güterzug im Gotthard-Basistunnel. Nun haben die zuständigen Behörden den Unfall aufgearbeitet. Ihr Bericht zeigt: Das Problem besteht weiter. Die SBB warnen eindringlich vor Untätigkeit.
02.06.2025, 12:3402.06.2025, 12:34
Stefan Ehrbar / ch media
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Selten hatte die Schweizer Eisenbahnwelt so viel Glück im Unglück wie am 10. August 2023. Ein Güterzug entgleiste im Gotthard-Basistunnel. Der Schaden im Tunnel war beträchtlich. Die Fahrbahn musste auf 7 Kilometer Länge ersetzt werden. Die betroffene der beiden Röhren wurde gesperrt, Personenzüge ins Tessin und nach Italien monatelang umgeleitet. Die SBB schätzen den Schaden heute auf 150 Millionen Franken.

Doch immerhin: Menschen kamen keine zu Schaden. Wäre die Entgleisung nicht im Tunnel passiert, sondern auf offener Strecke oder in einer zweigleisigen Tunnelröhre bei einem entgegenkommenden Zug, hätte es ein Desaster geben können. Seither beschäftigt die Bahn und die Behörden eine Frage: Wie lässt sich ein solcher Unfall vermeiden?

Am Montag hat die Schweizerische Sicherheitsuntersuchungsstelle (Sust) ihren Abschlussbericht veröffentlicht. Ihre Erkenntnisse sollen dazu beitragen, dass sich ähnliche Ereignisse nicht wiederholen. Denn solche Vorfälle wurden seit 2019 in ganz Europa dutzendfach registriert.

Güterwagen beschädigte Weichen

Den Hergang des Unglücks hat die Sust schlüssig aufgearbeitet. Demnach brach etwa 10 Kilometer nach Einfahrt in den Tunnel ein Fragment der rechten Radscheibe des elften Wagens. In dieser hatten sich Risse gebildet. Daraufhin entgleiste die betreffende Achse. Der Zug war mit einer Geschwindigkeit von etwa 90 Kilometern pro Stunde unterwegs.

Zunächst blieb dieser Vorfall unbemerkt. Erst bei einer Multifunktionsstelle, an der ein durch ein Tor geschützter Spurwechsel in die andere Röhre führt, zerstörte die entgleiste Achse die Antriebe der Weichen. Das führte dazu, dass die darauffolgenden Wagen abgelenkt wurden und entgleisten. Das Schutztor wurde ebenfalls beschädigt.

Doch wieso kam es zu den Rissen? Bei ihren Merkmalen handle es sich um ein «systematisches Phänomen, das nicht auf einzelne Materialdefekte zurückgeführt werden kann», heisst es im Abschlussbericht.

Empfehlungen nach Europa

Dass es zu Rissen kommt, ist zwar nicht ungewöhnlich. Die meisten von ihnen können erkannt und behoben werden. In diesem Fall aber waren die Risse senkrecht zur Lauffläche gewachsen, wie Philippe Thürler sagt, der Bereichsleiter Bahnen und Schiffe der Sust. Das sei ein «schwerwiegender Fehler».

Eine «thermische Überbelastung» – also Überhitzung beim Bremsen – habe zu den Rissen geführt, die über die Zeit weiter gewachsen seien. Diese Überlastung geht auf die eingesetzten Bremstypen zurück, die sogenannten LL-Bremssohlen.

Die Sust hat Sicherheitsempfehlungen und einen Hinweis erarbeitet. Drei davon richtet sie an die Eisenbahnagentur der Europäischen Union (ERA), die Vorgaben für ganz Europa erlassen kann, zwei an SBB Cargo und das hiesige Bundesamt für Verkehr. Die Sust empfiehlt der ERA etwa, Wartungsintervalle zu verkürzen und Prüfmethoden anzupassen. Moderne Methoden könnten solche Risse gut erkennen, sagt Thürler.

Verbindliche Vorgaben fehlen

Doch trotz der grossen Gefahr fehlen verbindliche Vorgaben auf europäischer Ebene bis heute. Stephan Eder, der Leiter des Untersuchungsdienstes der Sust, hofft, dass der Druck auf die ERA steigt. Dafür gebe es Hinweise. Früher seien Radbrüche in anderen Ländern schnell abgetan worden. Das habe sich seit dem Unfall geändert. Schärfere Instrumente hat die Sust auf europäischer Ebene nicht, und Vorschriften nur für die Schweiz will Eder nicht empfehlen.

Alarmiert über den Bericht der Sust und über die daraus gezogenen Lehren zeigen sich die SBB, die den Unglückszug in der Schweiz geführt hatten, der die Wagen aber nicht gehörten. Das Unfallrisiko im Güterverkehr sei «zu hoch», schreiben sie am Montag.

Die Bahn fordert eine rasche Umsetzung der Sust-Empfehlungen. «Bis griffige behördliche Massnahmen zu Modernisierung und Unterhalt erlassen sind», würden sie schrittweise aus dem Transport von Güterwagen mit LL-Bremssohlen aussteigen. Der Grossteil des Ausstiegs erfolge bis Ende 2025.

Einen anderen Schluss zieht die Gewerkschaft des Verkehrspersonals SEV. «Ein grosser Unfall wie im Gotthard-Basistunnel könnte jederzeit wieder passieren», warnt sie am Montag. Sie fordert mehr Personal für Kontrollen. Mit sogenannten akustischen Kontrollen an Güterwagen, die heute nur selten durchgeführt werden, könnte die Sicherheit rasch erhöht werden. (aargauerzeitung.ch)

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59 Kommentare
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Raketenwissenschaftler
02.06.2025 12:56registriert Januar 2023
Eigentlich einfach: Der Eigentümer des Bahnwagens müsste einfach eine ausreichende Versicherung nachweisen, sonst wird der Wagen an der Weiterfahrt gehindert. Bei LKW funktioniert das ja auch.
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walk the line
02.06.2025 13:44registriert Oktober 2024
Aus meiner Sicht müssten Wagen über eine Art CAN-Bus verbunden sein und sämtliche Betriebsparameter der Zugmaschine melden. Mindestens jedoch wär die Entgleisdetektion mit Not-Stopp zu realisieren.

Wir haben Züge, die Städte und dicht bewohntes Gebiet queren, mit Tonnen von Chemikalien oder Brennstoffen!
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Dr. Rodney McKay
02.06.2025 12:53registriert September 2024
Also will die offizielle Schweiz vorerst mal nichts machen weil auf Ebene der EU die entsprechenden Gesetze/Verordnungen fehlen?

Na dann warten wir doch am besten bis mal ein Güterzug ausserhalb eines Tunnels entgleist und ein entgegenkommender ausgelasteter IC nicht mehr bremsen kann...
immerhin will die SBB bis ende Jahr von diesen Wagen mit LL-Bremssohlen wegkommen.

Ich bin sprachlos.
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