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Schule - Bildung

Tests und Video-Bewerbungen: «Hürden für Schnupperlehren werden höher»

Jugendliche schnuppern an der Berufsmesse Zuerich in diverse Ausbildungsmoeglichkeiten, aurgenommen am Dienstag, 19. November 2019 in Zuerich. (KEYSTONE/Ennio Leanza)
Schnupperlehren sind ein wichtiger Bestandteil der Lehrstellensuche.Bild: KEYSTONE

Assessments und Video-Bewerbungen: «Die Hürden für Schnuppertage werden immer höher»

Bevor es um die Lehrstelle geht, wird in der Schweiz geschnuppert. Doch Schnuppertage sind rar, gerade bei beliebten Firmen. Gleichzeitig steigen die Anforderungen an die Schüler. Oft werden ganze Bewerbungsdossiers verlangt, um ein paar Tage in die Arbeitswelt eintauchen zu können.
06.03.2023, 05:2007.03.2023, 07:46
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«Ich bin perplex, enttäuscht und wütend», macht Jessica Mor ihrem Ärger Luft. Die zweifache Mutter erlebt gerade mit ihrem jüngeren Sohn, wie schwierig es ist, für ihn eine Schnupperlehre zu finden.

Auf dem Business-Netzwerk LinkedIn teilt sie ihren Frust mit: «Es werden regelrechte Assessments durchgeführt und ein Bewerbungsvideo verlangt, um überhaupt an einem Schnupperinfotag teilnehmen zu dürfen.»

Linkedin Jessica Mor
Ihr Sohn findet keine Schnupperlehre: Jessica Mors LinkedIn-Beitrag zum Thema. Bild: screenshot linkedin.com

Im Gespräch mit watson erklärt Mor die Situation ihres Sohnes. «Er ist im neunten Schuljahr und hätte eigentlich diesen Sommer eine Lehre beginnen sollen», sagt sie. Doch seine Wunschlehre als Grafiker musste er aufgeben, da er den dafür nötigen Vorkurs nicht bestand. Schnupperlehren fand er damals nur dank persönlicher Kontakte zu KMUs, wie Mor erklärt.

«Druck auf Jugendliche nimmt zu»

Sein Plan B war die Ausbildung als ICT-Fachmann, da er sich für Informatik interessiere. «Er ist ein guter Sek B Schüler mit einem knappen 5er-Notendurchschnitt – die Anforderungen würde er erfüllen», sagt Mor. Auch laut dem Zürcher Lehrbetriebsverband genügt für die Lehre neben einem Sek A-Abschluss auch ein Sek B-Abschluss.

Jessica Mor, Swiss4Lebanon
Ärgert sich über die Situation mit den Schnupperlehren: die zweifache Mutter Jessica Mor.Bild: zVg

Doch da die meisten ICT-Ausbildungsplätze hauptsächlich bei Grossfirmen angeboten würden, sei der Bewerbungsprozess schwierig. Schnupperlehren seien selten und die Hürden würden immer höher werden. «Er hat bis jetzt nur Absagen erhalten, obwohl er zum Teil aufwendige Bewerbungen eingereicht hatte», ärgert sich Mor.

Früher hätte ein Anruf genügt, um ein paar Tage in die Arbeitswelt eintauchen zu können. «Doch der Druck auf die Jungen nimmt immer mehr zu, ich finde diese Entwicklung nicht gut», sagt die zweifache Mutter. Sollte ihr Sohn nicht in den nächsten Monaten einen Ausbildungsplatz finden, werde er wohl ein 10. Schuljahr machen müssen.

Gleicher Meinung ist Manuela Di Nardo, freiwillige Bewerbungscoachin bei Pro Juventute und selbständige HR-Expertin. Sie ist auch Mutter von zwei Kindern, die bereits in der Lehre sind. Der Weg dahin war jedoch eine Herausforderung. «Die Anforderungen, um in einem Beruf zu schnuppern, sind extrem gestiegen. Man muss zahlreiche Fragen beantworten, ein Motivationsschreiben einschicken und teils sogar ein Online-Interview durchführen», sagt Di Nardo.

Sie sei sich sicher, dass diese Hindernisse die Jugendlichen abschrecken würden, sich zu bewerben, und nur unnötigen Druck aufbauen würden. Di Nardo fragt sich: «Warum müssen die Schüler überhaupt schon so viel wissen, um sich für Schnuppertage zu bewerben? Denn genau dafür sind diese Tage doch da, um herauszufinden, was die 14-Jährigen mit ihrem Leben anfangen wollen.»

Ein Lehrling bei der Arbeit an der Maschine im Unterricht an der Abteilung Lehrwerkstaette fuer Moebelschreiner an der baugewerblichen Berufsschule Zuerich, aufgenommen am 4. Maerz 2003. (KEYSTONE/Gae ...
Macht jeder angehendr Lehrling: Schnuppertage in verschiedenen Betrieben.symbolBild: KEYSTONE

«Problem bei den beliebten Berufen»

Für alle Jugendlichen, die ihren Berufswunsch in diesem Alter noch nicht kennen oder die keine Lehrstelle gefunden haben, für die gibt es das 10. Schuljahr. Dort weiss man über die Problematik mit den Schnuppertagen Bescheid, vor allem seit der Corona-Pandemie.

«Seit Corona bieten weniger Firmen Schnupperlehren an», sagt eine Lehrperson einer 10. Schulklasse im Kanton Aargau gegenüber watson. Sie möchte anonym bleiben, weil sie sich öffentlich nicht zu sehr exponieren möchte.

Sie habe festgestellt, dass einige Betriebe auf Assessments – während der Pandemie auch online – setzen, um Kandidaten für eine Schnupperlehre oder die Besetzung der Lehrstelle auszuwählen. Dies kann oftmals eine grosse Hürde für die Schülerinnen und Schüler darstellen und sollte vorgängig anhand von Fragen in der Schule gut geübt werden. Zudem würden viele Schnupperinfotage nur ein- oder zweimal pro Jahr stattfinden, oder sie seien ein halbes Jahr im Voraus ausgebucht.

Schnuppertage sind begehrt: Bei der Zürcher Kantonalbank sind sie bis Ende Juni 2023 ausgebucht.
Schnuppertage sind begehrt: Bei der Zürcher Kantonalbank sind sie aktuell bis Ende Juni 2023 ausgebucht.Bild: screenshot zkb.ch

«Das Problem besteht hauptsächlich bei den beliebten Berufen. Für weniger begehrte Ausbildungen findet man eher einen Schnupperplatz», sagt die Lehrperson. Sie rate ihren Schülern deshalb, auf einen Plan B oder sogar C auszuweichen, damit man eine Lehrstelle finden würde.

Die Verantwortung für die Schnupper- und Lehrstellensuche liege im Endeffekt bei den Jugendlichen. «Einige haben in der Volksschule zu wenig gemacht oder zu spät angefangen, oder sie haben sich ein Berufsziel gesteckt, das schwierig zu realisieren ist», sagt sie. Wichtig sei es, dass die Jugendlichen lernen, dranzubleiben, und auch Alternativberufe anschauen und vor allem den Mut und die Geduld nicht verlieren.

«Fünf Bewerbungen sollten reichen»

Unterstützung auf der Suche nach einer Schnupperlehre bietet die Plattform schnuppy.ch, eine Initiative der Gewerbevereine und der Schulen. Vereinspräsident und «Schnuppyman», wie er sich selbst nennt, ist Marcel Lüthi. Jährlich begleitet er rund 10’000 vermittelte Schnupperlehren.

Unterstützt bei der Schnupperlehr-Vermittlung: Marcel Lüthi.
Unterstützt bei der Schnupperlehr-Vermittlung: Marcel Lüthi.bild: zvg

Auch für ihn ist klar, dass sich die Ansprüche an die Schülerinnen und Schüler verändert haben. «Die Anforderungen für eine Schnupperlehre sind gestiegen, weil sich viele Firmen nicht mehr die Zeit nehmen, zuerst die Persönlichkeit hinter dem Bewerbern kennen zu lernen. Aber auch, weil die generellen Anforderungen an die Berufe gestiegen sind», sagt Lüthi. Die Bandbreite sei jedoch gross, gerade bei KMUs würden die Jugendlichen grössere Erfolgschancen haben zu schnuppern.

Dass die Firmen mit grosser Nachfrage eine Vorauswahl treffen, findet er sinnvoll: «Man sollte jedoch unterscheiden zwischen einem Schnuppertag, der darauf abzielt, etwas über den Beruf zu erfahren. Und der Schnupperlehre mit Bezug auf die Bewerbung einer Lehrstelle.» Eine Firma, die für einen Schnuppertag viele Anforderungen stelle, schaffe nur unnötige Barrieren.

«Katastrophal finde ich, wenn ein Arbeitgeber viele Unterlagen wie teils ganze Assessments für eine Schnupperlehre verlangt und sich dann nicht mehr bei den Jugendlichen meldet», sagt er. Lüthi ist der Meinung, dass knapp fünf Bewerbungen reichen sollten, um schnuppern zu können. Massenbewerbungen verschicken zu müssen, sei keine gute Entwicklung und schrecke die angehenden Lehrlinge nur ab.

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(Bild: Comet Photo)
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Video: watson
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258 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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du_bist_du
06.03.2023 05:38registriert Mai 2020
Nun, dann hoffe ich, dass keine einzige Firma die so vorgeht, sich über Fachkräftemangel beklagen wird in Zukunft.
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Hirngespinst
06.03.2023 05:41registriert August 2019
Die Zeiten ändern sich. Nicht immer zum Guten.
Ich habe Ende der 90er geschnuppert.
1 Woche war ich auf der Gemeinde Frutigen (Telefonanru, fertig). Habe am Ende noch 100.- bekommen für meinen guten Einsatz.
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Lion:ess
06.03.2023 06:27registriert Dezember 2015
Mein Sohn ist gerade in der Schnupperzeit. 5 Schnupperlehren von 2-5 Tagen, hat er alle per E-Mailanfrage bekommen. Sind halt Bau- und Handwerksberufe, eben jene mit Fachkräftemangel. Einmal wurde er sogar entlöhnt. Bhaltis oder gratis Mittagessen, sind zum Teil auch dabei. ICT ist halt sehr beliebt. Lustig, wie das Mami die Bank KV Lehre ins Lächerliche zieht und ihr Kind und dessen Wunschberuf auf ein Podest stellt. Vil. auch mal Alternativberufe ins Auge fassen?
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