Schulkinder lesen und schreiben immer schlechter – doch es gibt Grund zur Hoffnung
Das erste Wort, das mein Sohn lesen konnte, war Ikea. Wir fuhren mit dem Zug an einem Gebäude mit dem Schriftzug vorbei, als er laut sagte «Ikea». Das nächste Wort dürfte «Wooom!» gewesen sein, oder sonst ein Geräusch aus einem Asterix-Comic. Eine Welt, in der sich Leute den ganzen Tag prügelten, während die eigenen Eltern das streng verbieten.
Es gibt viele Bücher, die zum Lesen verführen. Doch in den allerersten entzifferten Wörtern liegt ein grosser Zauber: «STOP». «C-o-r-n-f-l-a-k-e-s». Fuss-ball-pl-atz ge-sp-errt! Aus Druckerschwärze wird eine Botschaft. Das sind Erweckungserlebnisse.
Im Idealfall schaffte es ein Kind bald darauf, einen ganzen Satz zu verstehen, lernt, wie Sätze zur Geschichte werden und findet dann eine Autorin oder einen Autor, von denen es alles verschlingt. Wäre das immer so, gäbe es diesen Artikel hier nicht. Stattdessen wird seit Jahren gewarnt: Unsere Kinder lesen immer schlechter – und verstehen kaum mehr, was sie da lesen. Und sie schreiben schlechter.
Im PISA-Test 2022 lag die Schweiz knapp über dem Durchschnitt der OECD-Länder, aber die Tendenz seit 2015 war leicht sinkend. Vor allem aber war der Anteil der leistungsschwachen Schülerinnen und Schüler von 20 auf 25 Prozent angewachsen.
Vier Monate Rückstand im Lernfortschritt – pro Jahr
Die neuste Hiobsbotschaft kam im August: Die Auswertung von Tests, welche in den Kantonen Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Solothurn und im Aargau jedes Jahr gemacht werden. Der «Tagesanzeiger» stellte einen deutlichen Leistungsabfall seit 2019 fest, besonders in der Primarschule: In der 3. Primarklasse reduzierte sich der Lernfortschritt um ein Drittel. Ende Schuljahr im Juli hat ein heutiges Kind im Durchschnitt erst den Lernstand vom März.
Das ist viel. Und das besondere Problem daran: Der Leistungsabfall betrifft vor allem jene Hälfte der Kinder, die durch ihre soziale Herkunft benachteiligt sind, wie die Pisa-Studie zeigte. Da waren Schweizer Kinder ebenso dabei wie solche mit Migrationshintergrund. Die schwindende Lesekompetenz ist kein Ausländerproblem.
Es ist auch kein Problem der Schulen. Man kann höchstens kritisieren, dass der Anteil an Deutschlektionen auf Kosten von Früh-Englisch und Früh-Französisch zurückgegangen ist.
Es wird in den Schulen punkto Leseförderung seit vielen Jahren einiges getan: Lesenächte haben sich etabliert, bekannte Schweizer Autorinnen und Autoren lesen zudem regelmässig den Kindern vor, organisiert zum Beispiel vom Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien. Das soll die Begeisterung fürs Lesen fördern. Und tut es auch – jedenfalls bei jenen Kindern, die freiwillig mehr lesen als die Legobauanleitung.
«Erzählnächte und Lesungen animieren zum Lesen, aber vor allem jene, die es eh schon können», sagt Miriam Dittmar, Co-Leiterin des Zentrums Lesen an der Pädagogischen Hochschule der FHNW. «Kinder, welche noch nicht automatisiert lesen, verstehen oft nur Fragmente, nie das Ganze. Sie werden auch nach Leseanimation nicht selbstständig lesen.»
Auf jene schwächsten Leser wurde bisher womöglich zu wenig geachtet. Hier sollte man ansetzen, findet Miriam Dittmar. «Sie brauchen eine systematische Förderung.» Wenn ihnen als Hausaufgaben zehn Minuten Lesen pro Tag verordnet wird, bringt das diese Kinder nicht weiter. Sie brauchen Begleitung.
So werden die Schwächsten gefördert
In der Schule werden dann zum Beispiel Lese-Tandems gebildet: Die Kinder lesen gemeinsam und zwar laut. Die Langsameren werden so von den Schnelleren unterstützt und laufend korrigiert. «Auch die Schnellen profitieren davon», sagt Dittmar. Die Schülerinnen und Schüler lesen auch wiederholt die gleichen Texte, um flüssiger zu werden. «Es ist wie, wenn ich den Handstand übe – jedes Mal geht es besser», sagt Dittmar. «Aber es braucht Zeit.» Und wenn es in der Oberstufe immer noch harze, müssten diese Grundfertigkeiten noch einmal geübt werden.
Doch auch nicht alle, die flüssig lesen, verstehen, was sie lesen. Um sich Texte zu erschliessen, brauchten die Kinder Strategien, sagt Dittmar. Sie lernen zum Beispiel, die richtigen Fragen zu stellen und wie man die Antwort formuliert. «Ich vermute, dass...» ist so ein simpler mündlicher Baustein, um über den Text zu sprechen. Erst später werden sie freier.
Zuerst gilt es, die Kinder gezielt zu unterstützen, Dittmar sagt auch, statt zu fragen: ‹Was habt ihr nicht verstanden?› sollten Lehrpersonen vorausdenken und schwierige Wörter vorher erklären. Lesen, ist die Leseforscherin überzeugt, sei eine soziale Aktivität, denn man lese ja, um die Welt da draussen zu verstehen.
Bücher sind nicht mehr das Tor zur Welt
Doch da sind wir beim springenden Punkt. Um die Welt zu verstehen, braucht man heute auch Englisch – und in dieser Sprache statt in Deutsch sind die Schülerinnen und Schüler immer besser. Das haben zumindest die Trends des Deutschen Institutes zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen 2022 ergeben. Englisch ist nützlich in den dutzenden auditiven Formaten, das Lesen ersetzen: Online-Tutorials, Youtube-Erklärfilme, Wissenshäppchen auf den sozialen Medien, Podcasts, Hörbücher. Und wer heute wie damals mein Sohn jemand laut «IKEA» sagt, muss man damit rechnen, dass der Sprachassistent auf dem Handy antwortet: «Kann ich für dich die Seite ikea.ch öffnen?»
Warum soll man da noch ein perfekter Leser werden? Andrea Erzinger, die Schweizer Pisa-Projektmanagerin, sagte gegenüber dem Onlinemedium Watson: «Das Lesen ist in Bedrängnis geraten.» Lesemotivation und Lesefreude der Jugendlichen nähmen ab. Wenn man statt die neuen Informationswege zu nutzen, doch noch liest, dann online. Und dort herrscht das schnelle Lesen von wenigen Sätzen vor. Man müsse wieder einen grösseren Spassfaktor am Bücherlesen vermitteln, so Erzinger.
Berühmte Türöffner in di Lesewelt:
Ist Schreiben bald keine Grundkompetenz mehr?
Aber muss man das wirklich? Was geht verloren, wenn wir das anstrengende Lesen aufgeben, weil es neue Technologien gibt? Gregor Waller, Medienpsychologe bei der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, sagt: «Wir sind Wesen, die evolutionsbedingt immer versuchen, den Energieverbrauch zu minimieren.» Das war oft clever. Ist es dies auch jetzt? Oder sind die Technologien, die uns das Lesen abnehmen, eher wie die Rolltreppen, die uns um die gesunde Bewegung bringen?
Eine befreundete Unternehmerin schreibt die meisten E-Mails nicht mehr selbst, sondern beauftragt ChatGPT damit: «Schreib mir eine Antwort auf diese Anfrage und lehne sie höflich ab.» Zum Beispiel. Sie spare so Zeit, sagt sie. Antworten wir per Whatsapp schriftlich, ist es meist schludrig.
Waller sagt: «Die Schrift entstand aus dem Bedürfnis, Informationen abspeichern zu können. Zuerst standen dafür nur Stein und Meissel zur Verfügung. Hätte es effizientere Wege gegeben, wäre die Erfindung der Schrift möglicherweise nicht nötig gewesen. Daher ist sie vielleicht nur eine Übergangstechnologie in unserer kulturellen Evolution.»
Möglich. Waller denkt nicht, dass das zu unserem Besten wäre. «Die Schrift war ein Turbo für die Entwicklung unseres Denkens und der Gesellschaft.» Nebst dem Informationenspeichern kann man via Schreiben nämlich extrem gut Gedanken ordnen und weiterentwickeln. Und wer liest, muss dabei so konzentriert sein und wendet so viel Energie aufs Erstellen eigener Kopfbilder, dass er sich an das Gelesene besser erinnert, als wenn er dasselbe in einem Film sieht. Schreibt er oder sie danach noch eine Zusammenfassung vom Gelesenen – oder auch vom Gehörten – wird der Prozess vertieft: Das Wissen bleibt hängen. Kürzen wir den Prozess ab, lernen wir schlechter, wie verschiedene Studien zeigen. Das gilt auch für die Nutzung von künstlicher Intelligenz beim Schreiben.
Natürlich stirbt die Schrift nicht aus. Aber die Gefahr ist, dass die Kompetenz in der Bevölkerung weniger verankert sein wird. Waller erinnert daran, dass vor 250 Jahren in der Schweiz auch nur 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung schreiben konnten. Die Schrift war einer Elite vorbehalten.
Das Handy ist ein Konkurrent
Damit wären wir beim Graben zwischen Arm und Reich: Es sind die sozial schlechter gestellten Schichten, die immer schlechter lesen können. Zum Glück tut sich dieser finanzielle Graben in der Schweiz – anders als in anderen Ländern – nicht weiter auf. Und während eine aktuelle Studie aus den USA zeigt, dass das tägliche Lesen in den letzten zwanzig Jahren um mehr als 40 Prozent abgesackt ist, zeigt die FJames-Studie unter den Jugendlichen der Schweiz, dass Bücher noch auffallend konstant gelesen werden (Link zu den Grafiken auf Seite 34). Wenn auch in keinem Vergleich zur Zeit, die sie am Handy verbringen.
Gerade weil bisher der Eindruck herrschte – bei uns geht’s ja noch, sind die erwähnten Tests aus der Nordwestschweiz mit dem Leistungseinbruch ein Warnsignal. Wir haben eine Sekundarschule in Baselland besucht. In diesem Kanton hat man schon zu handeln begonnen, als 2019 die Resultate der nationalen Überprüfung der Grundkompetenzen (ÜGK) nicht «befriedigend ausfielen», wie sich Fabienne Romanens, Sprecherin der Bildungsdirektion ausdrückt. Deren Vorsteherin, Monica Gschwind, hat damals verschiedene Massnahmen veranlasst – nicht nur fürs Fach Deutsch. Stunden wurden erhöht, in die Weiterbildung der Lehrpersonen investiert, in die Bibliotheken. Es war mit 62 Millionen Franken die grösste Investition von Kanton und Gemeinden in die Volksschule der letzten 20 Jahre.
Hier wurde ein Pilotprojekt der Fachhochschule Nordwestschweiz zur Leseförderung lanciert, das letztes Jahr auch der Kanton Aargau gestartet hat. An der Sekundarschule in Binningen BL ist das neue Konzept inzwischen Alltag. Die Schulbibliothek wurde zur Ausbildungsstätte, die speziell ausgebildeten Bibliothekarinnen bieten Workshops an. Schulleiterin Stephanie Mollinet sagt: «Bei uns ist das Lesezentrum immer voll.» Die Leistungsbeurteilung bleibt im Klassenzimmer. Denn hier soll die Freude am Lesen geweckt werden.
Bibliotheken wurden attraktiver gemacht
Für die Suche nach den Gründen der sinkenden Lesekompetenzen verschwendet man hier keine Zeit. «Die Gesellschaft ist, wie sie ist. Damit müssen wir arbeiten», sagt Mollinet. Auch Susann Täschler von der Kantonsbibliothek Baselland ist optimistisch. Sie ist für die Leseförderung zuständig und sagt: «Ich denke, wir bringen diese Generation in eine gute Zukunft. Wir verzeichnen zunehmende Ausleihzahlen. Und viele besuchen uns regelmässig. Bibliotheken sind ein Ort für Gespräche, Austausch und Demokratieförderung.»
Tatsächlich verzeichnen die Bibliotheken landesweit eine starke Zunahme an Besuchern und auch an Veranstaltungen. Ein Teil davon ist der Erholung nach Corona geschuldet, aber der Trend ist klar positiv. Hingegen stagniert national die Zahl der Ausleihen.
An der Sek Binningen fördern aber auch die Lehrpersonen das Leseverständnis speziell – in jedem Fach, wie Mollinet sagt. Hier denkt auch der Mathelehrer daran, die Schlüsselwörter für eine Sachaufgabe zu thematisieren. Eine eigens entwickelte Lesestrategie in sechs Schritten soll dabei helfen: Begegnen, bearbeiten, klären, verstehen, verarbeiten, weiterdenken, lauten sie. Es gibt zudem wöchentliche, freiwillige Leseflüssigkeitstrainings.
Zu den Schattenseiten der Digitalisierung mag die Schulleiterin nichts sagen. Aber als ich das Schulhaus in der Pause verlasse, ist der Hof voller Jugendlicher, die miteinander reden: An der Sekundarschule Binningen herrscht ein Handyverbot.
In Zürich erscheinen Abstimmungsinfos nun in einfacher Sprache
Denn am Ende ist die Rechnung einfach: Je mehr Zeit wir auf den Bildschirm starren, desto weniger Zeit bleibt fürs Reden miteinander und fürs Lesen eines Buches. «Das hat Auswirkungen», sagt Dittmar von der FHNW. Auch darauf, ob wir uns die Welt des Internets richtig erschliessen können. «Im Internet lesen ist noch komplexer als ein Buch zu lesen», sagt Dittmar, «denn oft muss man selektiv lesen können, um Informationen zu sammeln.» Und mehr als das: Man muss die Relevanz und die Qualität erkennen. Denn anders als in einer Bibliothek stehen im Internet Lügen neben hochwertigen Studien.
«Wir werden anfälliger auf Fake News, wenn unser kritisches Denken weniger durch konzentriertes Lesen und reflektiertes Schreiben trainiert wird», sagt Medienpsychologe Waller. «Dadurch fallen wir eher auf politisch manipulierte Nachrichten rein.»
Wie sieht also die Zukunft aus? Waller hat diese Woche die Abstimmungsunterlagen der Stadt Zürich zugeschickt bekommen. Zum ersten Mal wurden die politischen Vorlagen auf der ersten Seite zuerst in sogenannt leichter Sprache erklärt.
