Am Familientisch sitzt an diesem Abend auch eine 14-jährige Schulfreundin der Tochter. Das Gespräch fällt auf den Nahost-Krieg. Plötzlich platzt die Freundin heraus:
Hamas-Propaganda am Küchentisch, der Vater ist schockiert. Das Mädchen aus der 8. Klasse gibt wieder, was sie auf dem Pausenplatz der bunt durchmischten Schule in Bern hört und sieht. Dort trifft man sowohl auf Kinder aus dem Libanon wie auch auf solche mit jüdischer Religion.
Am Tisch bricht die Tochter die Stille und widerspricht der Freundin. Sie schildert, was ihr Lehrer zum Krieg gesagt hat – spricht vom Hamas-Terroranschlag und der israelischen Sichtweise. Die Meinungen in der 8. Klasse sind divers, aber auf dem Berner Pausenplatz selbst gibt es keine Konflikte. Die verschiedenen Lager gehen sich aus dem Weg.
Auch der Pausenplatz im sanktgallischen Goldach ist durchmischt – Kinder mit Wurzeln aus verschiedenen Himmelsrichtungen stehen zusammen und sitzen auf den Bänken. Hier ist Georg Göggel seit gut zwanzig Jahren Oberstufen-Lehrer. Er sitzt in seinem Schulzimmer und sagt: «Die Kinder verstehen, dass Antisemitismus ein wichtiges Thema ist. Einen Hass auf Juden gibt es hier nicht.» Wenn antisemitische Sprüche mal zu hören seien, dann sei das aufgesetzt, um mit irgendwelchem «Rap-Gesössel» wichtig zu tun.
Die Informationen zum Gaza-Krieg in der Berner Schule stammen häufig von TikTok oder Al Jazeera. Die sozialen Medien haben viel Gewicht. Göggel sagt:
Aber alle hätten von der Terrorattacke gehört. Für eine Bundesratswahl gelte das nicht. Die Information der Schülerinnen und Schüler sei oberflächlich und eher von Sensationsgier getrieben. «Der erste Flash sitzt, danach einzuordnen ist schwieriger», sagt Göggel.
Dementsprechend gross schätzt der Sekundarlehrer die Gefahr ein, dass seine Schüler Falschinformationen aufsitzen. «Die Gefahr von Falschinformationen über soziale Medien ist tatsächlich gross», bestätigt Beat A. Schwendimann vom Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH). Der Verband weise seit langem auf die Bedeutung der Medienkompetenzen hin. «Die Deutschschweiz hat mit dem Lehrplan 21 international eine Pionierrolle eingenommen, da ein eigenes Modul Medien und Informatik eingeführt wurde», sagt der Leiter Pädagogik.
Gegen Falschnachrichten braucht es aber auch historisches Wissen. Seit Jahren wird moniert, dass der Geschichtsunterricht zu kurz kommt. Vor allem seit Einführung des Lehrplans 21 werden fehlende Geschichtsstunden beklagt. Geschichte ist seither auf Sekundarschulstufe integriert im Fach Räume und Zeiten (RZ). Die zwei bis drei RZ-Lektionen in der Sekundarstufe teilen sich zur Hälfte in Geschichte und Geografie.
Auf den Strassen demonstrieren viele junge Menschen für Palästina, ignorieren die israelische Sicht. Dieses Jahr wurden 17 antisemitische Vorfälle an Schulen in der Deutschschweiz gemeldet: Davon eine Tätlichkeit, 13 Beschimpfungen und drei Schmierereien. Von einer höheren Dunkelziffer ist auszugehen.
Da könnte man folgern, dass sie nichts mehr von Nahost-Konflikt und vom Holocaust verstehen, weil das zu wenig gelehrt wird. «Es hat sich immer wieder gezeigt, dass bei vielen jungen Menschen in der Schweiz das Wissen über diese Themen zu gering oder falsch ist», sagt Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG). Die Schulen stünden durchaus in der Verantwortung, Gegensteuer zu geben.
Martin Pryde, Präsident des Vereins Schweizerischer Geschichtslehrpersonen, sagt, die Befürchtung habe sich bewahrheitet: «Mit der Einführung des Fachs Räume und Zeiten kommt der Geschichtsunterricht zu kurz.» Das aufgebaute historische Wissen der Gymnasiasten werde schlechter. «Es zeigt sich auch an den Kantonsschulen die Tendenz, Geschichte auf Kosten von anderen modischeren Fächern oder Inhalten abzubauen», sagt der Geschichtslehrer an der Kantonsschule Schaffhausen. Zum Beispiel zugunsten von Informatik oder Wirtschaft und Recht. Diese Fächer seien auch wichtig, könnten aber nicht leisten, was Geschichte leisten müsse. Diese sei aber ein absolut zentrales Fach für das Verständnis der Gegenwart. «Bei solchen Ereignissen wie dem Nahost-Konflikt wird immer nach einer historischen Einordnung gefragt.»
Nadine Ritzer von der Pädagogischen Hochschule Bern und Sabine Ziegler von der PH Luzern wollten es genauer wissen und untersuchten im Jahr 2022 in ihrer Studie «Was von Geschichte übrig blieb …» die Auswirkungen des Lehrplans 21 auf den Geschichtsunterricht. Motiviert hatte sie eine Umfrage, die zeigte, dass ein Drittel der Befragten im Alter zwischen 18 und 34 die Motive Putins für den Angriff auf das Nachbarland nachvollziehen konnten. Das hielten nicht nur Extremismusforscher für problematisch, schreiben die beiden.
Die Empörung über fehlende zeitgeschichtliche Kenntnisse und ungenügende Medienkompetenz der Jugendlichen führte Ritzer und Ziegler zur Frage, ob dem Fach Geschichte in der obligatorischen Schulzeit genügend Platz eingeräumt wird. «Denn stärker als andere Fachdisziplinen zielt der Geschichtsunterricht auch darauf ab, Jugendliche zu einer kritischen Urteilsbildung anzuregen – nicht zuletzt durch einen quellenkritischen Umgang mit medialer Berichterstattung», schreiben die beiden.
Gemäss der Studie führt die Zusammenlegung der Fächer Geschichte und Geografie in der Praxis zu einer durchschnittlichen Stundenreduktion von 9 Prozent. Die Autorinnen folgern, die Klagen über zu wenig Geschichtsunterricht seien durchaus verständlich. Im Zuge der Einführung des Lehrplans 21 gingen in vielen Kantonen Unterrichtsstunden verloren.
In der Studie wird die «Beobachtungsstelle für den Geschichtsunterricht in Europa» des Europarats zitiert, die von einer «Verzerrung und Verfälschung von Geschichte» spricht, der nicht erst seit dem Ukraine-Krieg als Gefahr für Freiheit und Demokratie verstanden werde. Ritzer schreibt, Social Media, veränderte Kommunikationsformen und gesellschaftliche Verwerfungen stellten besondere Herausforderungen dar. Diesen zu begegnen, sei auch die Aufgabe der Schule als Ganzer, aber vor allem des Geschichtsunterrichts. Die Forderung nach mehr Historie in den Volksschulen sei begründet, schreiben Ritzer und Ziegler.
Oberstufen-Lehrer Göggel mag nicht in das Gejammer einstimmen. Auf Sekundarstufe gebe es genug Geschichtsunterricht. Eine Lehrperson könne selbst genügend Schwerpunkte setzen. «Die Schule ist der Aktualität und vielen gesellschaftlichen Veränderungen unterworfen. Da gibt es viele Ansprüche auch von anderen Fachrichtungen, die alle ihren Wert haben. Dabei darf man das Fuder nicht überladen», sagt Göggel. Für aktuelle Anlässe wie den Terroranschlag der Hamas bleibe Zeit. «Ich habe die dritte Sekundar-Klasse zehn Lektionen bei mir, das reicht, um solche Ereignisse vertieft zu behandeln.» Diese Chance hätte im Prinzip jede Lehrerin und jeder Lehrer.
Das sieht auch Kreutner vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund so. Der Lehrplan 21 lasse den Lehrpersonen grossen Spielraum. «Eine Lehrperson kann diese Themen sehr ausführlich behandeln, eine andere Lehrperson im gleichen Schulhaus nur sehr spärlich», sagt Kreutner.
Schwendimann vom Lehrer-Dachverband sagt, im Lehrplan 21 der Volksschule fänden sich verschiedene Lehrziele, welche sich auf Kriege beziehen. Doch auch er sagt: «Es hängt jedoch von der Schwerpunktsetzung der einzelnen Lehrpersonen ab, wie und ob sie auf den aktuellen Nahostkonflikt eingehen.» So kann es noch immer sein, dass Jugendliche in ihrer Schulkarriere mehr von römischer Badearchitektur und den Hochzeiten der Habsburger hören als vom Holocaust und dem Nahost-Konflikt. (bzbasel.ch)
Was ist aus der Flut der Einflüsse glaubwürdig, wo ist Vorsicht geboten, wie kann ich Informationen verifizieren um mir eine eigene Meinung bilden zu können.