Was lange währt, wird endlich gut – man möchte diese gute alte Redensart ja gerne die Zuwanderungsdebatte anwenden, die die Schweiz seit dem 9. Februar 2014 bewegt. Und die teilweise absurde Blüten getrieben hat, nicht zuletzt in den Medien. Aber man kann nicht. Zu verknorzt verlief sie, zu viele Vorschläge wurden lanciert – auch vom Bundesrat – und verworfen, zu klar wurde, dass die Schweiz nichts gegen den Willen der EU unternehmen kann.
Nun steht der vorerst letzte Akt an: Das Parlament will in der laufenden Wintersession die Revision des Ausländergesetzes abschliessen, mit der die Masseneinwanderungsinitiative umgesetzt werden soll. Bis zur Schlussabstimmung am 16. Dezember dürften zweieinhalb hektische Wochen bevorstehen, denn es bestehen noch erhebliche Differenzen. Ein derartiger Kraftakt ist kein Ruhmesblatt für die Schweizer Politik. Der neue Verfassungsartikel 121a räumte ihr drei Jahre Zeit ein, um die MEI umzusetzen.
An diesem Szenario ist die Schweiz nicht alleine schuld. Die Brexit-Abstimmung hat eine einvernehmliche Lösung mit der Europäischen Union faktisch verunmöglicht. Brüssel fährt seither bei der Personenfreizügigkeit eine harte Linie. Die Parteien – mit Ausnahme der SVP – bemühen sich deshalb um eine einseitige Umsetzung, die das Freizügigkeitsabkommen nicht gefährdet.
Was ist nun zu erwarten? Und was steht noch bevor? Ein Überblick:
Der Nationalrat hat im September in einer ausufernden und teilweise peniblen Debatte einen «Inländervorrang light» beschlossen. Er verlangt, dass Unternehmen ihre offenen Stellen bei den Arbeitsämtern melden müssen. Weiter gehende Massnahmen darf der Bundesrat nur mit Zustimmung des Gemischten Ausschusses Schweiz-EU beschliessen.
Die vorberatende Kommission des Ständerats will diese Softie-Lösung verschärfen. Sie hat auf Antrag des Aargauer FDP-Ständerats Philipp Müller beschlossen, dass Firmen offene Stellen nicht nur melden müssen. Sie sollen in Branchen mit hoher Arbeitslosigkeit auch verpflichtet werden, Stellensuchende zu einem Bewerbungsgespräch einzuladen und eine Nichtanstellung zu begründen. Diese Regelung entspricht dem Konzept, das im Kanton Genf angewendet wird.
Die Wirtschaftsverbände laufen jedoch Sturm gegen das «Modell Müller», sie bezeichnen es als Bürokratiemonster. Bundesrat Ueli Maurer sprach von einem «Papiertiger». Der Ständerat berät am Mittwoch und eventuell am Donnerstag über die Vorlage. Falls er seiner Kommission folgt, steht eine mühsame Differenzbereinigung mit dem Nationalrat bevor. Wahrscheinlich ist, dass am Ende eine Lösung stehen wird, die weitgehend dem Inländervorrang light entspricht.
Die Dreijahresfrist ist nicht der einzige Grund für die parlamentarische Hektik. Es geht auch um die Ratifizierung des Kroatien-Protokolls, also die Ausweitung der Personenfreizügigkeit auf das jüngste EU-Mitgliedsland. Das Parlament hat sie im Juni mit einer Lösung bei der Zuwanderung verknüpft. Die EU wiederum verlangt die Ratifizierung bis zum 9. Februar 2017, sonst kann die Schweiz nicht länger am Forschungsprogramm Horizon 2020 teilnehmen. Ein Szenario, das Vertretern von Wirtschaft und Hochschulen schlaflose Nächte bereitet.
Die Urheberin der MEI beharrt auf einer wortgetreuen Umsetzung des Verfassungsartikels 121a, sie geisselte den Inländervorrang light als Verfassungsbruch. Sein – vermeintlicher – Urheber, der Solothurner FDP-Nationalrat Kurt Fluri, wurde zur bevorzugten Schiessbudenfigur in Roger Köppels «Weltwoche». Die starken Worte täuschen allerdings nicht darüber hinweg, dass die SVP bei diesem Thema desorientiert wirkt.
So droht Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher mit dem Referendum, falls die Zuwanderungsinitiative nach dem «Modell Müller» umgesetzt wird. Die Begründungspflicht sei inakzeptabel. Allerdings muss sich die SVP überlegen, ob sie eine Vorlage bekämpfen will, die einheimischen Stellensuchenden nützt, in welcher Form auch immer. Das SVP-Referendum gegen das Asylgesetz jedenfalls war ein Flop.
Als Alternative hat die SVP wiederholt eine Volksinitiative zur Kündigung der Personenfreizügigkeit ins Spiel gebracht. Ein Ende der bilateralen Verträge nimmt die Partei dabei bewusst in Kauf, Übervater Christoph Blocher würde ihnen ohnehin keine Träne nachweinen. Bis zu einer Abstimmung aber werden Jahre vergehen. Ausser «Täubelen» hat die SVP derzeit wenig Optionen.
Nach dem Brexit-Votum hat sich die Haltung der Europäischen Union in der Zuwanderungsfrage verhärtet. Auch gegenüber dem Inländervorrang light waren skeptische Töne zu vernehmen. Inzwischen scheint man sich in Brüssel mit dem Konzept anfreunden zu können. Die EU beharrt in erster Linie darauf, dass in der Schweiz lebende EU-Bürger nicht diskriminiert werden. Auch auf einer Verknüpfung mit dem institutionellen Rahmenabkommen scheint man nicht mehr kategorisch zu bestehen.
Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel etwa will der Schweiz bei dieser Frage mehr Zeit einräumen. Angesichts der vielen Probleme, mit denen die EU derzeit konfrontiert ist, scheint der Streit mit den helvetischen «Querulanten» in den Hintergrund zu rücken. Auf ewige Zeiten wird die Schweiz das Rahmenabkommen jedoch nicht auf die lange Bank schieben können, auch aus eigenem Interesse. Nur mit diesem Vertragswerk lässt sich der Bilateralismus weiterentwickeln.
Im Oktober 2015 wurde die Volksinitiative «Raus aus der Sackgasse!» (RASA) eingereicht. Sie verlangt die Streichung des neuen Verfassungsartikels 121a. Dem Bundesrat geht dies zu weit, er lehnt die RASA-Initiative ab, will aber einen direkten Gegenvorschlag ausarbeiten. Wie dieser aussehen soll, ist unklar. Der Bundesrat will die Beratungen im Parlament abwarten.
Über einen Gegenvorschlag müsste das Volk entscheiden. Es könnte damit den «Verfassungsbruch» rückwirkend legitimieren. Die Idee ist jedoch nicht unumstritten, für Kritiker wie den Politologen Michael Hermann ist der Gegenvorschlag ein Ausdruck von Mutlosigkeit. Das Volk müsste demnach vor die klare Alternative gestellt werden: Bilaterale Ja oder Nein? Dazu gibt es nur einen gangbaren Weg: Eine Abstimmung über das Rahmenabkommen.