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In Bundesbern herrscht Erleichterung. Diesen Eindruck erhält man zumindest, wenn man die Reaktionen auf den Vorschlag der zuständigen Nationalratskommission zur Umsetzung der Zuwanderungsinitiative betrachtet. Ausser der SVP scheinen alle damit zufrieden zu sein. Als Minimallösung tut er kaum jemandem weh, und er hat einen willkommenen Nebeneffekt: Das institutionelle Rahmenabkommen mit der EU dürfte vorerst vom Tisch sein.
Seit dem Brexit-Entscheid in Grossbritannien hat Brüssel den Ton verschärft und Zugeständnisse bei der Personenfreizügigkeit mit einem Einlenken beim Rahmenvertrag verknüpft. Aus diesem Dilemma dürfte sich die Schweiz mit dem Kommissionsentscheid befreit haben, sofern das Parlament ihn nicht verschärft. Er ist dermassen harmlos, dass er das Freizügigkeitsabkommen kaum verletzen wird. Eine Einigung mit der EU wäre nicht mehr notwendig.
Damit erhielte die Schweiz auch Luft beim Rahmenvertrag. Sie kann ihn faktisch auf die lange Bank schieben. Ein Rahmenabkommen sei «in der Schweiz zurzeit chancenlos», sagte Bundesrätin Simonetta Sommaruga im Interview mit der «NZZ am Sonntag». Eine Verknüpfung mit dem Freizügigkeits-Dossier sei deshalb weder im Interesse der Schweiz noch der EU: «Eine gescheiterte Abstimmung nützt nämlich niemandem.»
Am letzten Freitag bekräftigte die Landesregierung in einer Mitteilung, die Verhandlungen über das Abkommen würden nur abgeschlossen, «wenn der Bundesrat überzeugt ist, dass ein gutes Resultat vorliegt». Es bestehe «kein Zeitdruck». Der Bundesrat belässt es nicht bei Worten: Er hat laut «NZZ am Sonntag» die Gespräche mit Brüssel zur Zuwanderung faktisch unterbrochen und dem verantwortlichen Staatssekretär Mario Gattiker eine Art «Reiseverbot» auferlegt.
Mit dieser Haltung dürfte der Bundesrat auf ähnlich breite Zustimmung stossen wie die Nationalratskommission mit ihrem Vorschlag zur Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative. Der Rahmenvertrag gilt als eine Art «Todeskuss» für die bilateralen Verträge. Diese sollen nach dem Willen der EU in dem institutionellen Abkommen gebündelt werden. Scheitert es in der Volksabstimmung, dürfte der bilaterale «Königsweg» zur Sackgasse werden.
An ein Ja des Stimmvolks scheint kaum jemand zu glauben, erst recht nicht, seit SVP-Doyen Christoph Blocher dem Vertragswerk medienwirksam den Kampf angesagt hat. Als Stolperstein gelten die «fremden Richter»: Sind sich Bern und Brüssel nicht einig – etwa bei der Zuwanderung –, soll der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg das letzte Wort haben. Hält sich die Schweiz nicht an das Urteil, kann die EU «Ausgleichsmassnahmen» (sprich Sanktionen) verhängen.
In Bern herrscht deswegen das grosse Knieschlottern. Nicht zur Beruhigung beigetragen hat die Tatsache, dass sich Chefunterhändler Jacques de Watteville an der Delegiertenversammlung der SVP am 20. August regelrecht vorführen liess. In der Politik und in den Medien herrscht deshalb die Meinung vor, man solle das Rahmenabkommen hinauszögern. Es habe «keine Eile», schrieb etwa der Chefredaktor des Berner «Bund».
Ist das die richtige Strategie? Man darf es bezweifeln. Eine Niederlage in einer Volksabstimmung ist keineswegs ins Stein gemeisselt. Wenn man sie zur Schicksalsfrage «Bilaterale Ja oder Nein?» hochstilisiert, ist eine Annahme selbst mit «fremden Richtern» möglich. Die Durchsetzungs-Initiative lässt grüssen, auch wenn die beiden Vorlagen nur schwer zu vergleichen sind. Vor allem aber riskiert die Schweiz einen verhängnisvollen Stillstand in den Beziehungen mit Europa.
Ohne Lösung der institutionellen Fragen kann die Schweiz keine neuen Verträge mit der EU abschliessen. Das Strommarktabkommen ist eigentlich ausgehandelt, droht nun aber in der Schublade zu verschimmeln. Auch Vertreter der Finanzbranche wünschen sich einen besseren Zugang zum EU-Markt. Hinzu kommen neue Bereiche, die für die Schweizer Wirtschaft interessant werden könnten, etwa das Grossprojekt eines digitalen Binnenmarktes.
Ein weiteres Problem: Die bilateralen Verträge sind unflexibel, während sich das EU-Recht weiterentwickelt. Aus diesem Grund habe die EU das Rahmenabkommen überhaupt verlangt, sagt der Berner Europarechtler Thomas Cottier: «Statische Verträge sind nicht mehr zeitgemäss und in der Anpassung mühsam, sie widersprechen der dynamischen Entwicklung des EU-Rechts, das übernommen werden soll.»
Der emeritierte Professor kann die Angst nachvollziehen, dem Volk ein Rahmenabkommen vorzulegen. Er warnt jedoch vor Rechtsunsicherheit für die Schweizer Wirtschaft, da ohne dieses neue Verträge in den Bereichen Energie und Dienstleistungen nicht möglich sind.
Beim Bund hat man das Problem erkannt. «Schon heute können wir die existierenden Bilateralen nicht mehr an die aktuellen Entwicklungen anpassen. Und neue Marktzugangsabkommen können wir ohne eine Lösung bei den institutionellen Fragen nicht mehr abschliessen», sagte Chefunterhändler de Watteville der Aargauer Zeitung. Auch Simonetta Sommaruga räumte ein, man werde «eines Tages ein Rahmenabkommen brauchen».
Trotzdem scheint man auf Zeit spielen zu wollen, was Thomas Cottier nicht nachvollziehen kann: «Es ist nicht sinnvoll, auf einen allfälligen Austritt Grossbritanniens zu warten. Das wird Jahre dauern und ist nicht im Interesse des Wirtschaftsstandortes Schweiz und seiner Arbeitsplätze. Der Bilateralismus muss sich weiterentwickeln können.» Ansonsten entstünden Standortnachteile und immer mehr Firmen würden eine Auslagerung in den EU-Raum erwägen oder durchführen. Als Beispiel erwähnt Cottier den Outdoor-Sportartikelhersteller Mammut, der nur noch in der EU produziert.
Der EU-Kenner skizziert einen Ausweg: Die Schweiz könne über die EFTA an den EWR andocken, beschränkt auf jene Bereiche, für welche die bilateralen Verträge gelten. In den zuständigen Gremien ist die Schweiz als EFTA-Mitglied vertreten, was das «Totschlagargument» der fremden Richter entschärfen würde. Auch Parlamentarier im Bundeshaus favorisieren eine solche Lösung.
Pikanterweise entspricht sie genau dem ursprünglichen Vorschlag der EU. Es war das Aussendepartement (EDA), das ein Andocken an die EFTA-Strukturen verworfen und den Europäischen Gerichtshof als Entscheidungsorgan in Streitfragen vorgeschlagen hat, «zum Erstaunen der EU», so Cottier. Die Schweiz sei davon ausgegangen, man könne die Entscheide des EuGH als reine Gutachten einstufen, was sich absehbar als Fehleinschätzung erwiesen habe. «Die Schweiz hat den falschen Ansatz gewählt», bilanziert Cottier.
Unklar ist, ob ein Umschwenken auf die EFTA-Lösung möglich ist. Allenfalls müssten beide Seiten ihr Verhandlungsmandat anpassen. Derzeit sieht es eher so aus, als ob die Schweiz am eingeschlagenen Weg festhält. Eine heikle Strategie, denn das Rahmenabkommen entspricht einem Wunsch der EU. Falls der Leidensdruck bei den Bilateralen irgendwann zu gross wird, wäre die Schweiz auf einmal die Bittstellerin. Die EU könnte einen entsprechenden Preis verlangen.
Kurzfristig mag es opportun sein, den Rahmenvertrag auf die lange Bank zu schieben. Auf lange Sicht könnte dies die Schweiz teuer zu stehen kommen.