
Die EU ist der mit Abstand wichtigste Handelspartner der Schweiz.Bild: watson
Aus Angst vor dem
Volk will die Politik das Rahmenabkommen mit der EU in eine ferne Zukunft vertagen. Ein Europarechtler warnt vor Nachteilen für
die Schweizer Wirtschaft.
07.09.2016, 14:2908.09.2016, 13:52

Folgen
In Bundesbern
herrscht Erleichterung. Diesen Eindruck erhält man zumindest, wenn
man die Reaktionen auf den Vorschlag der zuständigen
Nationalratskommission zur Umsetzung der Zuwanderungsinitiative
betrachtet. Ausser der SVP scheinen alle damit zufrieden zu sein. Als
Minimallösung tut er kaum jemandem weh, und er hat einen
willkommenen Nebeneffekt: Das institutionelle Rahmenabkommen mit der
EU dürfte vorerst vom Tisch sein.
Seit dem
Brexit-Entscheid in Grossbritannien hat Brüssel den Ton verschärft
und Zugeständnisse bei der Personenfreizügigkeit mit einem
Einlenken beim Rahmenvertrag verknüpft. Aus diesem Dilemma dürfte
sich die Schweiz mit dem Kommissionsentscheid befreit haben, sofern
das Parlament ihn nicht verschärft. Er ist dermassen harmlos, dass
er das Freizügigkeitsabkommen kaum verletzen wird. Eine Einigung mit
der EU wäre nicht mehr notwendig.

Simonetta Sommaruga hält das Abkommen für chancenlos.Bild: KEYSTONE
Damit erhielte die
Schweiz auch Luft beim Rahmenvertrag. Sie kann ihn faktisch auf die
lange Bank schieben. Ein
Rahmenabkommen sei «in der Schweiz zurzeit chancenlos», sagte
Bundesrätin Simonetta Sommaruga im Interview mit der «NZZ am
Sonntag». Eine Verknüpfung mit dem Freizügigkeits-Dossier sei
deshalb weder im Interesse der Schweiz noch der EU: «Eine
gescheiterte Abstimmung nützt nämlich niemandem.»
«Königsweg» als Sackgasse
Am letzten Freitag
bekräftigte die Landesregierung in einer Mitteilung, die
Verhandlungen über das Abkommen würden nur abgeschlossen, «wenn der Bundesrat überzeugt ist, dass ein gutes Resultat
vorliegt». Es bestehe «kein Zeitdruck». Der Bundesrat belässt
es nicht bei Worten: Er hat laut «NZZ am Sonntag» die Gespräche
mit Brüssel zur Zuwanderung faktisch unterbrochen und dem
verantwortlichen Staatssekretär Mario Gattiker eine Art «Reiseverbot» auferlegt.
Mit dieser Haltung
dürfte der Bundesrat auf ähnlich breite Zustimmung stossen wie die
Nationalratskommission mit ihrem Vorschlag zur Umsetzung der
Masseneinwanderungs-Initiative. Der Rahmenvertrag gilt als eine Art «Todeskuss» für die bilateralen Verträge. Diese sollen nach dem
Willen der EU in dem institutionellen Abkommen gebündelt werden.
Scheitert es in der Volksabstimmung, dürfte der bilaterale «Königsweg» zur Sackgasse werden.
Blochers Kampfansage
An ein Ja des
Stimmvolks scheint kaum jemand zu glauben, erst recht nicht, seit
SVP-Doyen Christoph Blocher dem Vertragswerk medienwirksam den Kampf
angesagt hat. Als Stolperstein gelten die «fremden Richter»: Sind
sich Bern und Brüssel nicht einig – etwa bei der Zuwanderung –,
soll der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg das letzte Wort
haben. Hält sich die Schweiz nicht an das Urteil, kann die EU «Ausgleichsmassnahmen» (sprich Sanktionen) verhängen.

Christoph Blocher wettert gegen den Rahmenvertrag.Bild: DENIS BALIBOUSE/REUTERS
In Bern herrscht
deswegen das grosse Knieschlottern. Nicht zur Beruhigung
beigetragen hat die Tatsache, dass sich Chefunterhändler Jacques de Watteville an der
Delegiertenversammlung der SVP am 20. August regelrecht vorführen
liess. In der Politik und in den Medien herrscht deshalb die Meinung
vor, man solle das Rahmenabkommen hinauszögern.
Es habe «keine Eile», schrieb etwa der Chefredaktor des Berner «Bund».
Keine neuen Verträge mit EU
Ist das die richtige
Strategie? Man darf es bezweifeln. Eine Niederlage in einer
Volksabstimmung ist keineswegs ins Stein gemeisselt. Wenn man sie zur
Schicksalsfrage «Bilaterale Ja oder Nein?» hochstilisiert, ist
eine Annahme selbst mit «fremden Richtern» möglich. Die
Durchsetzungs-Initiative lässt grüssen, auch wenn die beiden
Vorlagen nur schwer zu vergleichen sind. Vor allem aber riskiert die
Schweiz einen verhängnisvollen Stillstand in den Beziehungen mit
Europa.
Ohne Lösung der
institutionellen Fragen kann die Schweiz keine neuen Verträge mit der EU abschliessen. Das Strommarktabkommen ist
eigentlich ausgehandelt, droht nun aber in der Schublade zu
verschimmeln. Auch Vertreter der Finanzbranche wünschen sich einen
besseren Zugang zum EU-Markt. Hinzu kommen neue Bereiche,
die für die Schweizer Wirtschaft interessant werden könnten, etwa
das Grossprojekt eines digitalen Binnenmarktes.
«Statische Verträge sind mühsam»
Ein weiteres
Problem: Die bilateralen Verträge sind unflexibel, während sich das
EU-Recht weiterentwickelt. Aus diesem Grund habe die EU das
Rahmenabkommen überhaupt verlangt, sagt der Berner Europarechtler Thomas Cottier: «Statische Verträge sind nicht mehr zeitgemäss und in der Anpassung mühsam, sie widersprechen der dynamischen Entwicklung des EU-Rechts, das übernommen werden soll.»
Der emeritierte Professor kann die Angst nachvollziehen, dem Volk ein Rahmenabkommen vorzulegen. Er warnt jedoch vor Rechtsunsicherheit für die Schweizer Wirtschaft, da ohne dieses neue Verträge in den Bereichen Energie und Dienstleistungen nicht möglich sind.

Thomas Cottier warnt vor Nachteilen für die Wirtschaft.Bild: srf
Beim Bund hat man
das Problem erkannt. «Schon heute können wir die
existierenden Bilateralen nicht mehr an die aktuellen Entwicklungen
anpassen. Und neue Marktzugangsabkommen können wir ohne eine Lösung
bei den institutionellen Fragen nicht mehr abschliessen», sagte
Chefunterhändler de Watteville der Aargauer Zeitung. Auch
Simonetta Sommaruga räumte ein, man werde «eines Tages ein
Rahmenabkommen brauchen».
Ausweg via EFTA?
Trotzdem scheint man
auf Zeit spielen zu wollen, was Thomas Cottier nicht nachvollziehen
kann: «Es ist nicht sinnvoll, auf einen allfälligen Austritt Grossbritanniens zu warten. Das wird Jahre dauern und ist nicht im Interesse des Wirtschaftsstandortes Schweiz und seiner Arbeitsplätze. Der Bilateralismus muss sich weiterentwickeln können.» Ansonsten entstünden Standortnachteile und immer mehr Firmen würden eine Auslagerung in den EU-Raum erwägen oder durchführen. Als Beispiel erwähnt Cottier den Outdoor-Sportartikelhersteller Mammut, der nur noch in der EU
produziert.
Der EU-Kenner
skizziert einen Ausweg: Die Schweiz könne über die EFTA an den EWR
andocken, beschränkt auf jene Bereiche, für welche die bilateralen
Verträge gelten. In den zuständigen Gremien ist die Schweiz als
EFTA-Mitglied vertreten, was das «Totschlagargument» der fremden
Richter entschärfen würde. Auch Parlamentarier im Bundeshaus
favorisieren eine solche Lösung.
«Falschen Ansatz gewählt»
Pikanterweise
entspricht sie genau dem ursprünglichen Vorschlag der EU. Es war das Aussendepartement (EDA), das ein Andocken an die EFTA-Strukturen verworfen und den Europäischen Gerichtshof als Entscheidungsorgan in Streitfragen vorgeschlagen hat, «zum Erstaunen der EU», so Cottier. Die Schweiz sei davon ausgegangen, man könne die Entscheide des EuGH als reine Gutachten einstufen, was sich absehbar als Fehleinschätzung erwiesen habe. «Die Schweiz hat den falschen Ansatz gewählt», bilanziert Cottier.
Unklar ist, ob ein
Umschwenken auf die EFTA-Lösung möglich ist. Allenfalls müssten
beide Seiten ihr Verhandlungsmandat anpassen. Derzeit sieht es eher
so aus, als ob die Schweiz am eingeschlagenen Weg festhält. Eine
heikle Strategie, denn das Rahmenabkommen entspricht einem Wunsch der
EU. Falls der Leidensdruck bei den Bilateralen irgendwann zu gross
wird, wäre die Schweiz auf einmal die Bittstellerin. Die EU könnte
einen entsprechenden Preis verlangen.
Kurzfristig mag es
opportun sein, den Rahmenvertrag auf die lange Bank zu schieben. Auf
lange Sicht könnte dies die Schweiz teuer zu stehen kommen.
EU–Schweiz: Das Eis schmilzt
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EU – Schweiz: Das Eis schmilzt
quelle: x01164 / francois lenoir
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