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Eine schwungvolle Handbewegung, und schon war es passiert: Klirrend ging das Wasserglas beim Rednerpult zu Bruch. Johann Schneider-Ammann lachte und suchte Zuflucht beim nahe liegenden Spruch: «Scherben bringen Glück!» Der Bundespräsident sprach am Montagabend in der Aula der Universität Zürich die einführenden Worte zur Rede von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Anlass war der 70. Jahrestag von Winston Churchills Europarede am gleichen Ort.
Nur etwas mehr als ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte sich der legendäre britische Kriegspremier für «eine Art Vereinigte Staaten von Europa» ausgesprochen. Der erste Schritt müsse eine Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland sein – zu jenem Zeitpunkt ein kühner Gedanke. Churchills visionäre Ansprache sorgte entsprechend für Aufsehen.
Über die Reden von Juncker und Schneider-Ammann wird das niemand behaupten. Zuvor hatten sich die beiden wieder einmal über die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative unterhalten. Und wieder einmal waren sie sich darin einig, dass sie sich nicht einig waren. Der Bundespräsident meinte trotzdem, man sei einen Schritt vorangekommen, und fügte an:
Der Weg dorthin ist weiter, als gewisse Kommentatoren annehmen. Stolperstein bleibt das institutionelle Rahmenabkommen. Die Schweiz lehnt eine Verknüpfung mit der Zuwanderungsfrage ab, die EU beharrt darauf. Johann Schneider-Amman vermied diesen Streitpunkt in seiner Einführungsrede, die für seine Verhältnisse richtig gut, ja inspiriert war. Man hatte fast den Eindruck, der Berner Magistrat wolle die Gerüchte widerlegen, er sei (amts-)müde.
So richtete er deutliche Worte an die EU-Gegner, insbesondere die SVP:
Europa müsse der führende Innovationskontinent des 21. Jahrhunderts sein, betonte der Bildungsminister. Es gelte, die wissenschaftlichen Kräfte zu bündeln, weshalb die Schweiz voll assoziiert am Forschungsprogramm Horizon 2020 teilnehmen müsse. Dazu muss die Schweiz das Kroatien-Protokoll ratifizieren. Schneider-Ammann hat nie verhehlt, dass er dies auch ohne Einigung mit der EU bei der Personenfreizügigkeit anstrebt. Am Montag sagte er klar und deutlich:
Einen ähnlich feurigen Appell hatte Jean-Claude Juncker nicht zu bieten, obwohl die EU ein wenig Aufbruchstimmung gebrauchen könnte. Sie befindet sich in einer «existenziellen Krise», wie der Kommissionspräsident letzte Woche in seiner Rede «zur Lage der Union» selbst betont hatte. Seine Zürcher Rede enthielt einige interessante Punkte, aber keine überzeugenden Antworten auf diese Herausforderung. So betonte der Luxemburger die Leistungen der EU:
Dabei erlaubte sich Juncker einen Seitenhieb auf abtrünnige und notorisch abseits stehende Länder:
Über ein flexibleres Europa, wie es etwa die Bruegel-Gruppe anregt, sprach Juncker nicht. Dafür war es wohl der falsche Ort und die falsche Zeit. Vor dem Abschluss der Brexit-Verhandlungen wird sich die EU keinen Millimeter bewegen. Dafür räumte der Kommissionschef ein, dass Europa bei der Digitalisierung «eine Verspätung aufholen» müsse. Die Kritik an den umstrittenen Abkommen TTiP und CETA verstehe er, sagte Juncker, dennoch wies er sie zurück:
Am Ende betonte Jean-Claude Juncker – nicht zum ersten Mal – die schrumpfende Bedeutung Europas in der Welt. Zu Churchills Zeiten hätten 26 Prozent der Weltbevölkerung in Europa gelebt. Im Jahr 2100 würden es noch vier Prozent sein. Kleingeisterei sei kein Konzept für die Zukunft, sagte Juncker, dessen Fazit wenig überraschend lautete:
Er sei von Junckers Rede «enttäuscht», meinte der frühere Preisüberwacher und SP-Nationalrat Rudolf Strahm gegenüber watson. Und sprach aus, was wohl die meisten in der Aula dachten. Was fehlte, konnte man zuvor in einem Symposium zur Churchill-Rede erfahren, an dem sich klingende Namen aus der vorab britischen Historikerzunft beteiligten.
So erfuhr man, dass Churchill wiederholt die Schweiz besucht hatte. Als junger Mann bestieg er den Monte Rosa, und während eines Sturms ertrank er beinahe im Genfersee. Seine Zürcher Rede 1946 sei inspiriert gewesen durch eine andere grosse Ansprache, die der britische Politiker wenige Monate zuvor gehalten hatte. In Fulton im US-Bundesstaat Missouri hatte er den Begriff «eiserner Vorhang» geprägt, der in Europa niedergegangen sei.
Winston Churchill sei sich bewusst gewesen, dass nur ein vereinigtes Europa dem Machtstreben der Sowjetunion entgegentreten könne, sagte der Historiker Alan Watson. Deshalb habe er in seiner Zürcher Rede zur Versöhnung von Deutschland und Frankreich aufgerufen. Dies sei auch ein Signal an die Amerikaner gewesen, denn ohne US-Kredite hätte es diese Versöhnung nicht gegeben.
Die USA reagierten, mit dem Marshall-Plan und der Luftbrücke in das von Josef Stalin abgeriegelte West-Berlin. «Churchill sah das grosse Bild. Das müssen wir heute wieder», sagte Charles Powell, einst einer der engsten Mitarbeiter von Margaret Thatcher. Alan Watson betonte, Europa müsse sich den heutigen Herausforderungen stellen, etwa in der Flüchtlingskrise, und zwar «mit Churchills Optimismus».
Damit brachten es die beiden Briten auf den Punkt: Es ist die von Jean-Claude Juncker selbst beklagte Kleingeisterei, an dem das heutige Europa krankt. Ein neuer Churchill aber ist nirgends in Sicht. Das ist das schmerzliche Fazit dieses Montags in der Aula der Uni Zürich.