Wie viele Städter war auch ich noch nie an einem Eidgenössischen Schwing- und Älplerfest. Denn hier in den urbanen Räumen, zwischen Kulturbars und Sushi-Restaurants, kursieren zahlreiche Vorurteile und Verurteilungen. Zeit also für einen Augenschein vor Ort.
Willkommen, liebe Städter und Anti-Schwingfestler, an dem Fest, an dem die Helfer «Chrampfer» sind und man den Abfall «wie ein Eidgenoss» entsorgt. Wo ihr besser nicht nach einer veganen Variante fragt, weil es nur ein Stück Brot bedeuten würde. Wo die Schwing-Resultate von den Bewohnern ans Fenster geklebt werden. Wo, wenn Gölä durchs Festgelände geht, ihn Frauen aufgeregt verfolgen und ihm sagen, wie toll sie ihn finden.
Diese fünf Dinge haben mich am Schwing- und Älplerfest besonders überrascht:
Als mir jemand sagt, dass das Schwingfest bereits um sieben Uhr morgens beginnt, halte ich das zuerst für einen Witz. Doch ein Blick aufs Festprogramm zeigt mir: Kein Witz, todernst. Die Stände und Restaurants öffnen sogar bereits um halb sechs. Um halb acht laufen dann die Schwinger ein. Wer das Turnier also ernsthaft mitverfolgen und seine Favoriten anfeuern will, muss spätestens dann auf der Tribüne oder vor dem Fernseher sitzen.
Morgens 6.48h in der Schweiz 😳 #esaf2019zug pic.twitter.com/bt2KyXRwXR
— Maurice Thiriet (@DickMo) 24. August 2019
Man stelle sich das mal so vor: Die Schweizer Fussballnationalmannschaft spielt um halb acht in der Früh einen Match. Darüber können die Schwingfans, die auch gerne gegen Fussballfans schiessen, nur lachen. Ein Schwingfestbesucher sagt dazu: «Kein Fussballfan würde so früh aufstehen.»
Ein Grossteil der 56'500 Besucher in der Arena haben vermutlich bis um drei Uhr morgens, als die Stände schlossen, in den Festzelten gefeiert. Hier müssen wohl auch die Festivalgänger einstecken – oder an welchem Festival wird so eine Ausdauer an den Tag gelegt?
Bereits im Zug fällt mir auf, dass praktisch jede und jeder ein Edelweiss-Hemd trägt. Doch auf dem Festgelände nimmt die Kleidung eine andere Dimension an. Die Fläche ist übersäht mit verschiedensten Kleider-Varianten im Edelweiss-Muster.
Jedes zweite Baby hat einen Edelweiss-Strampler an. Die Frauen bevorzugen oftmals pink, teils mit Rüschel-Ärmel, andere aus Seide. Selbst die Fingernängel sind mit Edelweiss-Symbolen lackiert. Die Männer tragen schwarz oder grau. Klassisch blau ist natürlich das Weitverbreiteste. Nebst der Kleidung sind auch Hüte, Sonnenschirme, Rucksäcke, Sonnenbrillen oder Tücher in Edelweiss-Optik. Kurz: Hat man kein Edelweiss-Whatever an, fühlt man sich definitiv wie ein bunter Vogel.
Normalerweise ist man es sich von grossen Festen gewohnt, dass Mitgebrachtes nicht erlaubt ist. Nicht am Eidgenössischen Schwing- und Älplerfest. Auf dem ganzen Gelände gibt es keine Absperrungen. Ob ins Festzelt oder ins Public Viewing – überall hin kann ich mein mitgebrachtes Bier oder Sandwich reinnehmen. Und dennoch: Kaum sieht man jemand, der eine andere als die braune Halbliter Glasflasche des offiziellen ESAF-Bierlieferanten in der Hand hält.
Aber am meisten erstaunt: Auch in die (abgesperrte) Arena darf praktisch alles reingenommen werden. Und tatsächlich: Drei Glasflaschen hat ein Besucher in der Hand und die Security lässt ihn ohne weiteres rein. Dass dieser Zustand für andere abnormal ist, bemerkt auch der Schwingkönig Matthias Sempach bei der SRF-Liveübertragung im Public Viewing: «Hier hat es 20 Zentimeter lange Messer auf der Tribüne und Glasflaschen – das würde man an einem Fussballspiel nie sehen.»
Fragt man die Festbesucher, worüber sie sich gerne beklagen möchten, kriegt man auffallend oft die Antwort: «Über nichts.» Es sei doch einfach schön, hier an diesem Fest zu sein. Dieses Wochenende ginge es für einmal nicht darum, sich zu beklagen – alles sei grandios.
So erzählen sie lieber von Gänsehaut-Momenten während der Nationalhymne oder von den vielen Bräuchen, die hier gefeiert werden. Der watson-Chefredaktor nennt die Festbänke denn auch den «Schmelztiegel des Föderalismus», egal woher man komme, alle hätten es gut miteinander.
Die Festbank als Schmelztiegel des Föderalismus. 83 Zillionen Festbänke. Alle voll besetzt und an allen wird anständig geölt. #esaf2019 @watson_news pic.twitter.com/snXqg9YY7d
— Maurice Thiriet (@DickMo) 24. August 2019
Auch der Schwingkönig Matthias Sempach betont im Gespräch mit SRF-Moderator Sascha Ruefer die gute Stimmung: «Es ist alles so friedlich und sicher.»
Doch gegen Abend wird auch das friedliche Fest wilder. Drei Besucher müssen in der Nacht auf Sonntag wegen Stürzen mit schweren Verletzungen ins Spital gebracht werden. Auch sei es zu Auseinandersetzungen und Streitigkeiten gekommen, teilt die Zuger Polizei mit.
Sollen die im anderen Zelt Hölle, Hölle, Hölle, Viva Colonia machen. Wir machen hier ChueLee. #esaf2019zug pic.twitter.com/BkXTRHLovD
— Maurice Thiriet (@DickMo) 24. August 2019
Dass das Schwingfest immer populärer wird, war mir bewusst. Auch, dass immer mehr «Hipster» das Eidgenössische besuchen. Aber richtig glauben konnte ich es nicht. Bis ich in der Masse am Schwingfest regelmässig modisch gekleidete Junge erblicke. Genauso gut hätten sie am Openair St.Gallen oder am Zürcher Letten sein können. Neben den Schwinger-Hipster überraschen auch die Polo-Shirt-Jungs mit Gucci-Brille. Oder die Frauen mit Louis-Vuitton-Tasche und ausgefallenem Schmuck.
Und als ich gerade wieder dem Gedanken nachgehe, dass ich trotz kleiner Vielfalt so gar nicht hierhin passe, läuft ein junger Mann (im Edelweiss-Hemd) an mir vorbei und sagt genervt zu seinem Freund: «Bisch eigentlech no nie amne Schwingfäscht gsi? Dammi nomau!» Gut zu wissen, dass ich nicht die einzige bin, für die das Schwingfest Neuland ist!
Wahnsinn und einfach ein schönes Gefühl, irgendwie.
Schwingfest ist, wenn es die ganze Schweiz interessiert & Zürich um 12.00 Uhr im Radio nur vom ausgebüxtem Rind erzählt. ... :)))