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Oslo-Attentat: Zwei Schweizer berichten vom Überfall auf den Nachtclub

Rettungssanitäter im Inneren der London Bar: In der Mitte der Schweizer Kevin Schweizer (mit Mütze).
Rettungssanitäter im Inneren der London Bar: In der Mitte der Schweizer Kevin Schweizer (mit Mütze).bild: zvg

Oslo-Attentat: Zwei Schweizer waren im Nachtclub – das berichten sie

Zwei Schweizer, Nathanaël Stoeri und Kevin Schweizer, 36 und 31 Jahre alt, befanden sich in der Schwulenbar, die am Freitagabend in Oslo von einem islamistisch vorbelasteten Täter ins Visier genommen worden war. Der Amoklauf richtete sich gegen zwei Nachtlokale. Es gab zwei Tote und 21 Verletzte.
27.06.2022, 16:1827.06.2022, 16:19
Antoine Menusier
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Warum befinden Sie sich derzeit in der norwegischen Hauptstadt Oslo und warum waren Sie am Freitagabend in der London Bar, einem der beiden Orte, die Ziel eines Anschlags waren?
Kevin Schweizer: Nathanael und ich sind auf einer Fahrradtour. Wir sind am 27. April in Tavannes im Berner Jura, wo ich herkomme, aufgebrochen, um zum Nordkap zu gelangen, das sich ganz oben in Norwegen befindet. Wir kamen am Samstag, dem 18. Juni, in Oslo an und wussten überhaupt nicht, dass am Wochenende darauf die «Gay Pride» stattfinden würde. Am Freitag, dem Abend der Tragödie, gingen wir mit einigen Freunden, die wir vor Ort hatten, in die London Bar, eine der wichtigsten Schwulenbars in Oslo.

«Ich fand mich auf der Strasse wieder und begriff immer noch nicht, was geschehen war»

Wo waren Sie, als der Schütze anfing zu schiessen?
Nathanaël: In der London Bar gibt es zwei Ebenen. Das Erdgeschoss, in dem getanzt wird, und die untere Ebene, in der sich die Bar und die Toiletten befinden. Zwei oder drei Minuten vor den Schüssen war ich auf die Toilette gegangen. Deshalb habe ich die Schüsse nicht gehört. Als ich rauskam, sah ich alle Leute auf dem Boden, auf allen Vieren, auf den Knien, ich verstand nicht, was los war. Ich wollte wieder nach oben zu Kevin, der oben war. Aber ein Sicherheitsmann versperrte den Weg. Da sah ich, dass alle Leute, die sich wie ich unten befanden, zu einem Notausgang gingen, der zu einer weiteren Treppe führte, über die man die Bar verlassen konnte.

Nathanaël Stoeri aus Monthey (VS) und Kevin Schweizer aus Tavannes (JU/BE)

Nathanaël (links) und Kevin
Nathanaël (links) und Kevinbild: zvg

Kevin: Ich selbst war auf der Tanzfläche, wo sich ein Teil des Dramas abspielte. Ich hörte einen sehr heftigen Knall. Es wurde geschossen. Mein Kumpel und ich, mit dem ich unterwegs war, spürten, wie Dinge auf uns fielen. Wir wussten nicht, was es war. Der DJ stellte die Musik schnell ab. Die Sicherheitsleute forderten uns auf, uns hinzulegen. Das, was auf uns gefallen war, war die zerbrochene Glasscheibe, die den Innenraum der Bar von der Terrasse trennte. Kugeln hatten es durchschlagen und zerbrochen. Die beiden Toten befanden sich auf der Terrasse, wie sich später herausstellen sollte.

«Ich hörte einen sehr heftigen Knall. Es wurde geschossen»

Ist der Schütze in die Bar hineingegangen?
Kevin: Zu keinem Zeitpunkt ist er in die Bar gegangen, und das nur dank des heldenhaften Einsatzes von zwei oder drei Personen, die am Eingang standen und ihn daran gehindert haben. Den Schützen habe ich nicht gesehen.

«Ich bin zwei Verletzten zu Hilfe geeilt»

Gab es Verletzte in der Bar?
Kevin: Ja, es gab einige Verletzte, die auf der Tanzfläche lagen. Ich leistete vor allem zweien von ihnen Hilfe. Der eine war an zwei Stellen getroffen worden, am Kopf, aber ich kann Ihnen nicht sagen, ob es eine Kugel war, und an der rechten Schulter, die eine Kugel durchschlagen hatte. Die andere Person war nicht angeschossen, aber sie war heftig in die Glasscherben gefallen und blutete. Ich machte Druckstellen mit Material, das ich am Tatort gefunden hatte, einem T-Shirt und Handtüchern.

Haben Sie Erste-Hilfe-Kenntnisse?
Kevin: Ja, während meines Geologiestudiums in Lausanne besuchte ich die Kurse des Samaritervereins Lausanne-Mixte. Dort bin ich immer noch als Ersthelfer aktiv.

«Alle lagen auf dem Boden»

Wurden Sie beide verletzt?
Kevin und Nathanaël: Nein, zum Glück nicht.

Gab es keine Panik?
Nathanaël: Nein, unten lagen alle auf dem Boden. Erst als die Rettungskräfte eintrafen, standen die Leute wieder auf und gingen in aller Ruhe nach draussen.

Wie war es oben?
Kevin: Die Verletzten wurden evakuiert, nachdem die Rettungsmassnahmen eingeleitet worden waren. Die Sanitäter gaben den schwersten Fällen den Vorrang. Draussen standen sieben Krankenwagen. Da wir unseren Job erledigten, kümmerten sich die Sanitäter nicht zuerst um die Verletzten, die bereits von einigen von uns versorgt worden waren.

Sie waren voneinander getrennt...
Nathanaël: Als ich rauskam, war ich wirklich verwirrt. Ich rief sofort Kevin an. Er dachte, ich sei auf der oberen Toilette, weil es in der Bar im oberen Stockwerk auch eine Toilette gab.

«Kevin sagte mir am Telefon nur: ‹Geh nicht aus der Toilette! Geh nicht aus der Toilette!› Ich sagte ihm, dass ich schon draussen sei. Er sagte mir, dass er mich später treffen würde. Wir haben uns etwa nach einer Viertelstunde getroffen.»
Nathanaël

Was haben Sie dann getan?
Kevin und Nathanaël: Wir gingen zu der kleinen AirBnB-Wohnung zurück, die wir in Oslo gemietet hatten.

Hat sich die norwegische Regierung bei Ihnen für die Hilfe bedankt?
Kevin: Nicht persönlich, nein. Zwar nahm die Polizei noch am selben Abend meine Aussage auf, doch sie nahm weder meine Identität noch meine Telefonnummern auf. Aber der norwegische König und der Premierminister würdigten in einer Erklärung die heldenhaften Taten. Adressiert vor allem an die Personen, die durch ihre Tapferkeit den Mörder daran gehindert haben, in die Bar zu gelangen.

Polizeikräfte nicht weit vom Ort des Geschehens entfernt.
Polizeikräfte nicht weit vom Ort des Geschehens entfernt.bild: zvg

Wann erfuhren Sie, dass die norwegische Polizei von einem islamistischen Angriff ausgeht?
Kevin et Nathanaël: Am nächsten Tag. Zu diesem Zeitpunkt erfuhr man auch die Identität des mutmasslichen Mörders. Doch bereits in der Nacht war bekannt geworden, dass er festgenommen worden war und wahrscheinlich allein gehandelt hatte.

Hatten Sie Kontakt zu Ihren Familien?
Kevin und Nathanaël: Wir haben ihnen noch in der Nacht des Unglücks eine WhatsApp-Nachricht geschickt, um sie zu beruhigen. Im Laufe des Tages haben wir sie dann angerufen.

Haben Sie am Samstag an dem spontanen Gedenkmarsch für die Opfer teilgenommen, der stattfand, obwohl die Gay Pride abgesagt worden war?
Kevin et Nathanaël: Wir wären hingegangen, erfuhren es aber erst im Nachhinein. Wir haben uns jedoch am Samstag um 16.15 Uhr an den Ort des Geschehens begeben. Es war ziemlich bewegend. Alle waren versammelt, die Leute legten Blumen nieder, andere sangen auf Norwegisch.

Wie fühlen Sie sich nach dem Amoklauf?
Nathanaël: In meinem Fall gibt es viel Wut über solche Taten und einen erneuerten Willen, mein Leben in vollen Zügen zu leben. Und dann denkt man sich, dass die beiden Menschen, die gestorben sind, die in ihren Sechzigern waren, man selbst hätte sein können.

«Ich empfinde Traurigkeit und Wut. Ich hoffe, dass dies der erste und letzte Anschlag ist, den wir erleben müssen, aber gerade das lässt mich an die Menschen in anderen Teilen der Welt denken, die mit dieser Gewalt in Berührung kommen und fast täglich ihr Leben riskieren»

Wie lange sind Sie schon zusammen?
Seit sechs Jahren.

Wie lange bleiben Sie noch in Oslo?
Kevin und Nathanaël: Morgen (Red.: Dienstag) geht es los. Wir werden nach Nordnorwegen fahren und dann nach Schweden abbiegen, um den Bottnischen Meerbusen zu erreichen. Wir sollten Mitte August am Nordkap ankommen.

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8 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Andy
27.06.2022 16:57registriert Januar 2014
Kevin/Nathanaël: Schön ist euch nichts passiert und danke dass ihr geholfen habt!
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Snowy
27.06.2022 17:24registriert April 2016
Grosser Einsatz!

Danke Nathanel und Kevin - und gute Reise weiterhin!
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Oberland-Autobahn
27.06.2022 17:52registriert Juli 2021
"Zwar nahm die Polizei noch am selben Abend meine Aussage auf, doch sie nahm weder meine Identität noch meine Telefonnummern auf."

Ähm, ist das normal in Norwegen, und wenn ja, aus welchen Gründen? Das widerspricht meiner Erfahrung von Polizeiarbeit komplett und erscheint eher wie ein riesiges Versäumnis!
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