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Was die Schweizer Linke von Helmut Schmidt lernen könnte

Deutscher Herbst 1977: Helmut Schmidt gibt nach der Entführung von Hanns Martin Schleyer eine Erklärung ab.
Deutscher Herbst 1977: Helmut Schmidt gibt nach der Entführung von Hanns Martin Schleyer eine Erklärung ab.
Bild: EPA/DPA FILE

Was die Schweizer Linke von Helmut Schmidt lernen könnte

Der deutsche Ex-Kanzler Helmut Schmidt war ein knallharter Pragmatiker. Und ein Verteidiger der Rechtsstaatlichkeit. Das könnte auch die hiesige Sozialdemokratie interessieren.
16.11.2015, 10:08
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Als er 1982 das Bundeskanzleramt verlassen musste, war Helmut Schmidt ein einsamer Mensch. Der SPD hatte er sich entfremdet, der Koalitionspartner FDP war zu Helmut Kohls CDU/CSU übergelaufen. Als er 33 Jahre später starb, wurde Schmidt mit hymnischen Nachrufen aus allen politischen Lagern gewürdigt. In Umfragen wurde der «grosse Weise» aus Hamburg zum populärsten Deutschen der Gegenwart und zum beliebtesten Politiker der neueren deutschen Geschichte erkoren.

Helmut Schmidts Karriere ist beeindruckend. Sie hat auch mich und mein politisches Bewusstsein geprägt (sorry, ich schreibe schon wieder über mich). Als er 1974 abrupt die Nachfolge des zurückgetretenen Bundeskanzlers Willy Brandt antreten musste, war ich in der Primarschule. Sein ebenso ungeplanter Abgang 1982 geschah ein Jahr vor meiner Maturität. Es war die Zeit, in der das Internet höchstens in der Vorstellung einiger Spinner existierte. Und im Fernsehen neben drei SRG-Sendern nur einige wenige Programme aus Deutschland und Österreich liefen.

Kanzler, Altkanzler, Ehemann: Helmut Schmidts Leben in Bildern

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Kanzler, Altkanzler, Ehemann: Helmut Schmidts Leben in Bildern
Der deutsche Altbundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) ist am 10. November 2015 im Alter von 96 Jahren gestorben. Auch für die Jüngeren war er kein Unbekannter, denn er war ein bekennender Raucher – sogar vor laufenden TV-Kameras wie hier im April 2015 in der ARD-Fernsehsendung «Menschen bei Maischberger».
quelle: dpa / daniel bockwoldt
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Wer damals aufwuchs, schaute ARD und ZDF. Wer sich für Politik zu interessieren begann, kam an Helmut Schmidt nicht vorbei. Der deutsche Kanzler war omnipräsent, und das nie so stark wie im Deutschen Herbst 1977, als die Bundesrepublik durch den Terror der Roten-Armee-Fraktion (RAF) erschüttert wurde. Der Bankier Jürgen Ponto und Generalbundesanwalt Siegfried Buback wurden ermordet, Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer wurde entführt.

Als Krisenmanager gefordert

Die Kidnapper wollten inhaftierte RAF-Mitglieder freipressen. Als die Lufthansa-Maschine Landshut durch mit der RAF verbündete Palästinenser nach Mogadischu in Somalia entführt wurde, eskalierte die Lage vollends. Schmidts Fähigkeiten als Krisenmanager, erprobt während der Hamburger Sturmflut 1962, waren gefordert. Er gab den Befehl zur Stürmung des Flugzeugs durch die Bundeswehr-Eliteeinheit GSG9. Bei einem Scheitern wäre er zurückgetreten (es ging gut). Im Fall Schleyer blieb er hart (es ging nicht gut, der Arbeitgeberboss wurde ermordet).

Die Verleihung des Hanns-Martin-Schleyer-Preises 2012 war eine späte Anerkennung für Schmidts Unbeugsamkeit. Die vielleicht grösste Leistung des Kanzlers aber war die Verteidigung des Rechtsstaats, der im aufgeheizten Klima in der noch relativ jungen deutschen Demokratie unter Druck geriet. Das Schweizer SP-Urgestein Jean Ziegler hob diesen Aspekt im Interview mit dem «Tages-Anzeiger» hervor: «Schmidt hat verstanden, dass der grösste Sieg einer terroristischen Organisation darin besteht, den Rechtsstaat mit der eigenen Verachtung für die Menschenrechte zu infizieren.»

Umstrittener Doppelbeschluss

Zieglers Gegenbeispiel ist der frühere US-Präsident George W. Bush mit seiner Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001. Und vielleicht hatte das alte Genfer Schlachtross ein weiteres Beispiel im Hinterkopf, denn auch in der heutigen Schweiz werden Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in Frage gestellt. Nicht durch Terroristen, sondern durch eine bestimmte Partei. Politiker vom Format eines Helmut Schmidt, die diesem Treiben entschieden entgegentreten, sind jedoch Mangelware. Die Schweizer Linke könnte vom Ex-Kanzler einiges lernen.

Ostermarsch 1982 gegen die Stationierung von US-Atomraketen.
Ostermarsch 1982 gegen die Stationierung von US-Atomraketen.
Bild: AP

Die betrifft auch die zweite bedeutende Episode, die ich damals mitverfolgt habe: den NATO-Doppelbeschluss von 1979. Er sah die Stationierung von atomar bestückten US-Mittelstreckenraketen in Westeuropa – insbesondere Deutschland – vor, als Reaktion auf eine entsprechende Aufrüstung im Warschauer Pakt. Gleichzeitig sollten Abrüstungsverhandlungen mit der Sowjetunion aufgenommen werden – daher die Bezeichnung Doppelbeschluss.

Entfremdung und Versöhnung

Der Bundeskanzler verteidigte ihn eisern und hatte bald grosse Teile seiner SPD gegen sich. Denn die Aussicht auf US-Atomraketen auf deutschem Boden verlieh der Friedensbewegung enormen Zulauf. Sie wurde nicht nur von Prominenten wie dem Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll unterstützt, sondern auch von SPD-Grössen wie Schmidts Vorgänger Willy Brandt. Schmidt musste mehrfach mit Rücktritt drohen, um seine Fraktion auf Linie zu bringen. Der Streit um den Doppelbeschluss trug wesentlich zu seinem Sturz als Bundeskanzler bei.

Die Geschichte gab Helmut Schmidt im Nachhinein recht. Die Entfremdung zwischen ihm und der SPD aber dauerte Jahre. Erst mit zunehmendem Alter kam es zur Versöhnung, am Ende feierten die Sozialdemokraten den knorrigen Hanseaten als Übervater. An die Lichtgestalt Brandt kam er nie heran, doch die SPD lernte seinen Pragmatismus und seine Fähigkeiten als Krisenmanager schätzen. Man sah ihm nach, dass seine «Weisheiten» häufig eher Banalitäten waren, ebenso sein irritierendes Verständnis für Wladimir Putin und die chinesische Autokratie.

Zwei Seelen in der Brust

Für die Schweizer Linke kann auch dies ein Beispiel sein. Das zeigt sich an jener Kontroverse, die die SP im Kanton Zürich zuletzt erschüttert hat: die Strafanzeige der Juso gegen Regierungsrat Mario Fehr wegen der umstrittenen Beschaffung eines Staatstrojaners. Man erkennt gewisse Parallelen zum Streit um den NATO-Doppelbeschluss. Während die Stationierung der Raketen eine Reaktion war auf die atomare Bedrohung aus dem Ostblock, ist der Staatstrojaner eine Massname gegen die Gefährdungen durch Cyberkriminalität und Terrorismus.

Damals wie heute wohn(t)en zwei Seelen in der Brust. Man sympathisierte mit der Friedensbewegung und war gleichzeitig irritiert über ihre oft einäugige Perspektive. Sie protestierte gegen die US-Raketen und ignorierte jene der Sowjetunion. Heute rebelliert das libertäre Herz gegen staatliche Überwachung, der pragmatische Kopf aber sieht darin ein notwendiges Übel, um das Gewaltmonopol des Staats angesichts der globalen und diffusen Bedrohungslage zu sichern.

Sinn für das Wünsch- und Machbare

Einen simplen Ausweg aus diesem Dilemma gibt es nicht. Mit Pragmatismus à la Schmidt aber ist auch die hiesige SP, deren Herz weit links schlägt, in ihrer Geschichte meist ganz gut gefahren. Das zeigt auch das Beispiel gerade jener Bundesräte, die ihr von den Bürgerlichen aufgezwungen wurden und die zu den herausragenden Figuren in der Sozialdemokratie des 20. Jahrhunderts gezählt werden. Auch heute geniessen gerade die Pragmatiker im Volk hohes Ansehen. In die Mitte rücken muss die SP nicht, das wäre ihr nicht zuzumuten. Aber sie kann von ihnen lernen.

SP

«Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen», lautet das vielleicht bekannteste Bonmot von Helmut Schmidt. Der vermeintliche Seitenhieb auf Willy Brandt sei vor allem «eine pampige Antwort auf eine dusselige Frage» gewesen, wie der Altkanzler Jahre später erklärte. Der trockene Norddeutsche war sich bewusst, dass die Linke beides braucht: den Sinn für das Wünsch- wie das Machbare.

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6 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Angelo C.
16.11.2015 11:03registriert Oktober 2014
Gelungene Zusammenfassung über Schmidts Wesen und Wirken, hat mir gut gefallen!

Bezüglich dem nicht verhinderten Tod Hanns Martin Schleyers habe er dennoch öfters sowas wie ein schlechtes Gewissen, sagte er in einer der letzten Maischberger-Interviews. Das im Artikel erwähnte Urgestein Jean Ziegler hat mich übrigens insofern herb enttäuscht, als er in seinem Nachruf auf Helmut Schmidt dessen Auftreten als arrogant bezeichnete, was bestenfalls eine Halbwahrheit darstellt. Obwohl gewiss nicht in jeder Beziehung meinem politischen Credo entsprechend, empfand ich HS stets als grossen Staatsmann.
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Stefan Rüegger
16.11.2015 13:14registriert Januar 2014
Wohin es mit der SP geht, wenn sich die Partei als Ganzes nach rechts bewegt, zeigt die Antwort von Maggie Thatcher auf die Frage nach ihrem grössten Erfolg: "New Labour."

Einzelne sozialliberale Köpfe können zusätzliche Stimmen aus der Mitte bringen und die parteiinterne Debatte bereichern. Als Ganzes hat die SP aber nichts in der Mitte verloren.
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Luca Brasi
16.11.2015 12:51registriert November 2015
Was genau soll die SP nun lernen? Ihre Vertreter wurden mit teils glänzenden Resultaten in den Ständerat gewählt. Das schafft man nicht, wenn man keine Prise Pragmatismus besitzt, da die meisten Ständeratswahlen Majorzwahlen sind. Ich sehe das Problem eher in den Medien, die lieber ein SVP-Musikvideo durchanalysieren als einen dieser Ständeräte zu interviewen. Der Vergleich mit dem NATO-Doppelbeschluss hinkt, denn es ging damals um eine pol. Entscheidung, die man gut oder schlecht finden konnte. Die KaPo Zürich hingegen hat ohne entsprechende gesetzliche Grundlage Staatstrojaner angeschafft.
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