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Du willst nur das Beste? Voilà:
Als er 1982 das
Bundeskanzleramt verlassen musste, war Helmut Schmidt ein einsamer
Mensch. Der SPD hatte er sich entfremdet, der Koalitionspartner FDP
war zu Helmut Kohls CDU/CSU übergelaufen. Als er 33 Jahre später starb, wurde
Schmidt mit hymnischen Nachrufen aus allen politischen Lagern
gewürdigt. In Umfragen wurde der «grosse Weise» aus Hamburg zum
populärsten Deutschen der Gegenwart und zum beliebtesten Politiker
der neueren deutschen Geschichte erkoren.
Helmut Schmidts
Karriere ist beeindruckend. Sie hat auch mich und mein politisches
Bewusstsein geprägt (sorry, ich schreibe schon wieder über mich).
Als er 1974 abrupt die Nachfolge des zurückgetretenen Bundeskanzlers
Willy Brandt antreten musste, war ich in der Primarschule. Sein
ebenso ungeplanter Abgang 1982 geschah ein Jahr vor meiner Maturität.
Es war die Zeit, in der das Internet höchstens in der Vorstellung
einiger Spinner existierte. Und im Fernsehen neben drei SRG-Sendern nur
einige wenige Programme aus Deutschland und Österreich liefen.
Wer damals aufwuchs,
schaute ARD und ZDF. Wer sich für Politik zu interessieren begann,
kam an Helmut Schmidt nicht vorbei. Der deutsche Kanzler war
omnipräsent, und das nie so stark wie im Deutschen Herbst 1977, als die Bundesrepublik durch den Terror der Roten-Armee-Fraktion (RAF) erschüttert wurde. Der Bankier Jürgen Ponto und
Generalbundesanwalt Siegfried Buback wurden ermordet,
Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer wurde entführt.
Die Kidnapper wollten inhaftierte RAF-Mitglieder freipressen. Als die Lufthansa-Maschine Landshut durch mit der RAF verbündete Palästinenser nach Mogadischu in Somalia entführt wurde, eskalierte die Lage vollends. Schmidts Fähigkeiten als Krisenmanager, erprobt während der Hamburger Sturmflut 1962, waren gefordert. Er gab den Befehl zur Stürmung des Flugzeugs durch die Bundeswehr-Eliteeinheit GSG9. Bei einem Scheitern wäre er zurückgetreten (es ging gut). Im Fall Schleyer blieb er hart (es ging nicht gut, der Arbeitgeberboss wurde ermordet).
Die Verleihung des Hanns-Martin-Schleyer-Preises 2012 war eine späte Anerkennung für Schmidts Unbeugsamkeit. Die vielleicht grösste Leistung des Kanzlers aber war die Verteidigung des Rechtsstaats, der im aufgeheizten Klima in der noch relativ jungen deutschen Demokratie unter Druck geriet. Das Schweizer SP-Urgestein Jean Ziegler hob diesen Aspekt im Interview mit dem «Tages-Anzeiger» hervor: «Schmidt hat verstanden, dass der grösste Sieg einer terroristischen Organisation darin besteht, den Rechtsstaat mit der eigenen Verachtung für die Menschenrechte zu infizieren.»
Zieglers Gegenbeispiel ist der frühere US-Präsident George W. Bush mit seiner Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001. Und vielleicht hatte das alte Genfer Schlachtross ein weiteres Beispiel im Hinterkopf, denn auch in der heutigen Schweiz werden Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in Frage gestellt. Nicht durch Terroristen, sondern durch eine bestimmte Partei. Politiker vom Format eines Helmut Schmidt, die diesem Treiben entschieden entgegentreten, sind jedoch Mangelware. Die Schweizer Linke könnte vom Ex-Kanzler einiges lernen.
Die betrifft auch die zweite bedeutende Episode, die ich damals mitverfolgt habe: den NATO-Doppelbeschluss von 1979. Er sah die Stationierung von atomar bestückten US-Mittelstreckenraketen in Westeuropa – insbesondere Deutschland – vor, als Reaktion auf eine entsprechende Aufrüstung im Warschauer Pakt. Gleichzeitig sollten Abrüstungsverhandlungen mit der Sowjetunion aufgenommen werden – daher die Bezeichnung Doppelbeschluss.
Der Bundeskanzler verteidigte ihn eisern und hatte bald grosse Teile seiner SPD gegen sich. Denn die Aussicht auf US-Atomraketen auf deutschem Boden verlieh der Friedensbewegung enormen Zulauf. Sie wurde nicht nur von Prominenten wie dem Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll unterstützt, sondern auch von SPD-Grössen wie Schmidts Vorgänger Willy Brandt. Schmidt musste mehrfach mit Rücktritt drohen, um seine Fraktion auf Linie zu bringen. Der Streit um den Doppelbeschluss trug wesentlich zu seinem Sturz als Bundeskanzler bei.
Die Geschichte gab
Helmut Schmidt im Nachhinein recht. Die Entfremdung zwischen ihm und
der SPD aber dauerte Jahre. Erst mit zunehmendem Alter kam es zur
Versöhnung, am Ende feierten die Sozialdemokraten den knorrigen
Hanseaten als Übervater. An die Lichtgestalt Brandt kam er nie
heran, doch die SPD lernte seinen Pragmatismus und seine Fähigkeiten
als Krisenmanager schätzen. Man sah ihm nach, dass seine «Weisheiten» häufig eher Banalitäten waren, ebenso sein
irritierendes Verständnis für Wladimir Putin und die chinesische
Autokratie.
Für die Schweizer
Linke kann auch dies ein Beispiel sein. Das zeigt sich an jener
Kontroverse, die die SP im Kanton Zürich zuletzt erschüttert hat: die
Strafanzeige der Juso gegen Regierungsrat Mario Fehr wegen der
umstrittenen Beschaffung eines Staatstrojaners. Man erkennt gewisse
Parallelen zum Streit um den NATO-Doppelbeschluss. Während die
Stationierung der Raketen eine Reaktion war auf die atomare
Bedrohung aus dem Ostblock, ist der Staatstrojaner eine Massname
gegen die Gefährdungen durch Cyberkriminalität und
Terrorismus.
Damals wie heute
wohn(t)en zwei Seelen in der Brust. Man sympathisierte mit der
Friedensbewegung und war gleichzeitig irritiert über ihre oft
einäugige Perspektive. Sie protestierte gegen die US-Raketen und
ignorierte jene der Sowjetunion. Heute rebelliert das libertäre Herz
gegen staatliche Überwachung, der pragmatische Kopf aber sieht darin
ein notwendiges Übel, um das Gewaltmonopol des Staats angesichts der
globalen und diffusen Bedrohungslage zu sichern.
Einen simplen Ausweg
aus diesem Dilemma gibt es nicht. Mit Pragmatismus à la Schmidt aber
ist auch die hiesige SP, deren Herz weit links schlägt, in ihrer
Geschichte meist ganz gut gefahren. Das zeigt auch das Beispiel
gerade jener Bundesräte, die ihr von den Bürgerlichen aufgezwungen
wurden und die zu den herausragenden Figuren in der Sozialdemokratie
des 20. Jahrhunderts gezählt werden. Auch heute geniessen gerade die
Pragmatiker im Volk hohes Ansehen. In die Mitte rücken muss die SP
nicht, das wäre ihr nicht zuzumuten. Aber sie kann von ihnen lernen.
«Wer Visionen hat,
sollte zum Arzt gehen», lautet das vielleicht bekannteste Bonmot
von Helmut Schmidt. Der vermeintliche Seitenhieb auf Willy Brandt sei vor allem «eine pampige Antwort auf eine dusselige Frage» gewesen, wie
der Altkanzler Jahre später erklärte. Der trockene Norddeutsche war
sich bewusst, dass die Linke beides braucht: den Sinn für das
Wünsch- wie das Machbare.
Bezüglich dem nicht verhinderten Tod Hanns Martin Schleyers habe er dennoch öfters sowas wie ein schlechtes Gewissen, sagte er in einer der letzten Maischberger-Interviews. Das im Artikel erwähnte Urgestein Jean Ziegler hat mich übrigens insofern herb enttäuscht, als er in seinem Nachruf auf Helmut Schmidt dessen Auftreten als arrogant bezeichnete, was bestenfalls eine Halbwahrheit darstellt. Obwohl gewiss nicht in jeder Beziehung meinem politischen Credo entsprechend, empfand ich HS stets als grossen Staatsmann.
Einzelne sozialliberale Köpfe können zusätzliche Stimmen aus der Mitte bringen und die parteiinterne Debatte bereichern. Als Ganzes hat die SP aber nichts in der Mitte verloren.