Nicht in allen Bereichen ist die Schweiz den Spanierinnen unterlegen
Sydney Schertenleib muss es wissen. Die 18-jährige Stürmerin der Schweizer Nationalmannschaft spielt seit einem Jahr beim FC Barcelona – und damit zusammen mit dem halben spanischen EM-Team. Auf die Frage, ob dieses Spanien, am kommenden Freitag Viertelfinal-Gegner der Schweiz, Schwächen habe, antwortete sie: «Ich sehe diese Spielerinnen jeden Tag im Training. Auch sie haben Schwächen.» Nur verraten wollte Schertenleib diese Defizite nicht. «Das behalte ich für mich.»
In Spanien machen sie um die Schwächen von Alexia Putellas, Aitana Bonmati und Co. kein grosses Geheimnis. Im Gegenteil: Im spanischen TV ging es am späten Freitagabend nach dem 3:1-Sieg im letzten EM-Gruppenspiel gegen Italien und einer makellosen Vorrunde nicht zu knapp um den Schwachpunkt, die Abwehr. Diese wird kritisiert, weil sie zu viele Tore kassiert. Beim frühen Gegentreffer gegen Italien etwa verteidigten die Spanierinnen tatsächlich haarsträubend.
Die Zahlen legen diese Schwachstelle offen. In der Vorrunde erhielt Spanien drei Gegentore – gleich viele wie die Schweiz. Und in der Nations League in diesem Frühjahr wurde Spanien zwar Gruppensieger, doch kein einziges der sechs Spiele überstand die Abwehr unbeschadet.
Trotz der kritischen Voten aus dem eigenen Land und der durchzogenen Defensivbilanz: Schaut man diesen Spanierinnen an der EM zu, scheint es ein wenig gesucht, wenn man nach Schwächen Ausschau hält. Denn zum Leistungsausweis gehört auch dies: drei Spiele, drei Siege, 14:3 Tore. Kein anderes Team kommt auf eine solche Bilanz.
Mit angezogener Handbremse zur makellosen Vorrunde
Dabei mussten die Spanierinnen noch nicht mal an ihre Grenzen gehen. Italien, den nominell stärksten Gegner in der Gruppe B, besiegten die Weltmeisterinnen trotz frühem Rückstand scheinbar mühelos, obwohl Trainerin Montserrat Tomé mehrere Wechsel vornahm und mit einer halben B-Elf spielte.
Doch was heisst bei diesen Spanierinnen schon B-Elf? Weltfussballerin Aitana Bonmati etwa lag wenige Tage vor der EM noch mit einer Hirnhautentzündung im Spital. In den ersten beiden Spiele kam sie bloss zu Kurzeinsätzen. Dennoch erzielte Spanien gegen Portugal (5:0) und Belgien (6:2) zwei Kantersiege. Claudia Pina, in der abgelaufenen Saison beste Torschützin in der Champions League, schoss nur eines von zwölf Toren. Gegen Italien blieb sie zunächst auf der Bank. Andere sprangen in die Bresche.
Vergleicht man Spanien an diesem Turnier mit der Schweiz, stechen die statistischen Unterschiede ins Auge. Die Schweizerinnen zeigten auch gute und dominante Leistungen, doch was sind schon 333 angekommene Pässe pro Spiel bei 648 gelungenen Zuspielen auf Seiten der Spanierinnen? Oder was sind die 38 Torschüsse in drei Spielen von Geraldine Reuteler und Co. gegenüber den 78 Abschlüssen ihrer Viertelfinal-Gegnerinnen? Und der Ballbesitz? Die Spanierinnen hatten das Spielgerät in jedem Spiel etwa zu 70 Prozent in den eigenen Reihen.
Die Erfolge, die dominanten Auftritte und die spielerische Souplesse der spanischen Frauen haben sehr viel mit dem FC Barcelona zu tun. Der Klub aus Katalonien weitete die konsequente Förderung des männlichen Nachwuchses in seinem Ausbildungszentrum «La Masia» vor rund 15 Jahren auch auf Mädchen und Frauen aus. Zuletzt stand «Barça» fünf Mal in Folge im Final der Champions League der Frauen.
Im EM-Kader figurieren neben den beiden Barcelona-Superstars Alexia Putellas (drei Tore, vier Assists an der EM) und Aitana Bonmati, die Weltfussballerinen der letzten vier Jahre acht weitere Spielerinnen des FC Barcelona. Und mit Lia Wältis Arsenal-Teamkollegin Mariona Caldentey, die beste Akteurin der englischen Super League, sowie Barcelona-Rückkehrerin Laia Aleixandri zwei weitere (Stamm-)Spielerinnen mit «Barça-DNA».
Nicht alle sind glücklich mit Trainerin Montserrat Tomé
Diese hochkarätige Auswahl wurde vor anderthalb Jahren Montserrat Tomé anvertraut. Die 43-Jährige ist nicht unbestritten, weil sie zuvor die Assistentin von Jorge Vilda war. Dieser wurde bei der Aufarbeitung der Affäre um Verbandspräsident Luis Rubiales abgesetzt, der bei der Pokalübergabe nach dem WM-Final 2023 die Spielerin Jennifer Hermoso auf den Mund geküsst hatte.
Tomé hatte sich damals hinter Jorge und Rubiales gestellt. Hermoso ist deshalb im Nationalteam nicht mehr dabei, Barcelona-Verteidigerin Mapi Leon bleibt der Auswahl ebenfalls fern. Nicht wenige sehen in der Beförderung Tomés vor allem einen symbolischen Akt. Sie ist die erste Frau als Cheftrainerin des spanischen Frauen-Nationalteams. Diesbezüglich ist die Schweiz den Spanierinnen weit voraus. Der SFV machte mit Beatrice von Siebenthal bereits 2004 erstmals eine Frau zur Nati-Trainerin. (aargauerzeitung.ch)
