Donnerstag, 10:15 Uhr: Eiskalter Regen schlägt einem ins Gesicht, wenn man vom Winterthurer Hauptbahnhof zur «Winti-Arena» läuft. Die Menschen sehen aus wie genervte Schildkröten: leicht eingezogener Hals, zusammengekniffene Augen. Einfach möglichst schnell ans Ziel. Fussball-Stimmung? Eher nicht.
Wäre es Juli, würden betrunkene Menschenmassen die ganze Stadt mit schlecht gesungenen Fanliedern einnehmen.
Das ist natürlich nicht jedermanns Sache. Vielleicht hat diese WM ja etwas Gutes: Die Johler können johlen, einfach in gut geheizten Wohnungen oder Bars, abgeschnitten von den Nicht-johlenden. Alles hat seinen Platz, sehr Schweizerisch.
Doch gibt es die Johlenden überhaupt? Menschenrechtsverletzungen und nasskaltes Novemberwetter findet man normalerweise nicht im Baukasten für gute Laune.
Auch die «Winti-Arena» liegt nicht gerade bei der Schinkenstrasse auf Mallorca. Zwischen Autowäsche und Schutz & Intervention Winterthur soll es aber sein, das Fussballfieber. Ein Public Viewing wie die Containersiedlungen der Gastarbeiter in Katar: Etwas versteckt vor der Öffentlichkeit. Hier aber vermutlich unbewusst.
10:45 Uhr, die «Winti-Arena» ist voll. Einige sehen so aus, als machten sie eine verlängerte Mittagspause. Die meisten scheinen ihren Besuch aber schon lange geplant zu haben. Sie tragen Nati-Shirts und Nati-Schals. Ein Mann mit leicht schielendem Blick – drittes, vielleicht viertes Bier – trägt einen riesigen Plastik-Emmentaler auf dem Kopf. Ein anderer ist als Fussball verkleidet.
Die Veranstalter geben sich Mühe: An der Brüstung hängen alle Flaggen der teilnehmenden Länder. Grüner Filzboden für das Stadion-Gefühl, Holzbänke für das sommerliche Biergarten-Gefühl. Unter der Leinwand ist ein kleines DJ-Pult aufgestellt, darauf steht «Ohne Bass kein Spass». Aus den Boxen dröhnt «Ma Chérie» von DJ Antoine.
«Mir säged: Hopp Schwiiz!», predigt der DJ wie ein Rekommandeur auf der Chilbi und lässt den nächsten Plastikbeat aus der Lautsprecheranlage scheppern. Auf der Leinwand läuft SRF2, Werbung. Ausschliesslich Fussballwerbung. Katar-Boykott? Nö.
«Beim Eröffnungsspiel waren vielleicht 100 Leute da», sagt Patrice Frauenfelder, Teamleiter in der «Winti-Arena». Heute seien es 500. Er hat eine Igelfrisur und ein Walkie-Talkie, das ihm gefährlich weit aus seiner Gesässtasche hängt. «Die Leute müssen sich zuerst ein wenig an die Winter-WM gewöhnen, aber das kommt schon. Heute ist ein Arbeitstag und es sind 500 Menschen hier. Wir sind zufrieden», sagt Frauenfelder.
10:55 Uhr, die Schweizer Nationalhymne ertönt. Die Leute stehen auf, legen die Arme über die Schultern des Nachbarn und singen besser, als so mancher Nati-Spieler.
11:00 Uhr: Anspiel. Shaqiri passt den Ball nach hinten, die Meute klatscht, sitzt ab, Ruhe. Sie hört Sascha Ruefer zu, als wäre es Pflichtstoff für eine anstehende Prüfung.
Die Schweizer dominant, doch die Kameruner haben die besseren Chancen. Die Anspannung liegt so schwer in der Luft, man kann sie fast greifen. Es wird mit kleinen, schnellen Schlücken am Bier genippt, die Nachschub-Pitcher schlängeln sich geräuschlos durch die Bankreihen. Ein Security mit blonden Haaren und rot unterlaufenen Augen läuft den Raum hoch und runter. Er wirkt ernst. Wegen des Spiels oder den Gästen – man weiss es nicht.
11:50 Uhr. Halbzeit, es steht 0:0. Eine Gruppe betrunkener Fans isst Älplermagronen und jasst. Die Fussballexperten im Raum stellen Stammtisch-Analysen auf, was in der zweiten Hälfte besser gemacht werden muss («de Vargas muss eifach mal schüsse»). Der Junge am Nachbartisch mit dem Flaum über der Oberlippe googelt, wo Kamerun liegt.
12:05 Uhr. Das Spiel geht weiter. Es sitzen noch nicht alle, da trifft Breel Embolo. Gerade Embolo, der in Kamerun geboren ist. Es brechen alle Dämme. Man steigt auf die Bänke, fällt sich in die Arme, schmeisst Bier durch die Halle.
Da ist es, das WM-Feeling. Auf einer kleinen, künstlichen Insel, versteckt im Industriequartier Winterthur. Hier herrscht Fussballfieber. Ein Gefühl, das nach Bratwurst, Angstschweiss und leeren Plastikbierbechern riecht.
Jetzt ist die Meute geladen (und betrunken). Bei jeder guten Aktion der Schweizer wird geklatscht, bei jedem vermeintlichen Fehlentscheid des Schiedsrichters gepfiffen. Es wird «Hopp Schwiiz» skandiert und «Olé Olé» gesungen. Dass die Kameruner einige Male knapp den Anschluss verpassen, interessiert nur noch am Rande.
Patrice Frauenfelder von der «Winti-Arena» ist sich sicher: «Jetzt geht es Schlag auf Schlag. Die Anspielzeiten werden besser, spannende Partien stehen an, die Menschen haben sich an die Winter-WM gewöhnt.»
Nach dem Abpfiff applaudiert die Menge, der Security mit rot unterlaufenen Augen verkneift sich das Lächeln. Beim Ausgang versuchen die regionalen TV-Sender, die ulkigsten Fans vor die Kamera zu bekommen. «Jo es isch schwierig gsi, aber mer hends verdient», lallen zwei Männer mit flauschigen Schweiz-Zylindern ins Mikrofon.
Eigentlich ist alles wie immer. Nur die kalte Novemberluft irritiert ein wenig.