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WM 2022 Katar: Fussballfieber, wo bist du?

School children watch the FIFA World Cup 2022 group G soccer match between Switzerland and Cameroon on a large screen at the municipal hall in the Village of Unterengstringen, outside Zurich, Switzerl ...
Fussballfieber, bist du es?Bild: keystone

Fussballfieber, wo bist du?

Unser Reporter ist auf der Suche nach Gejohle, Bier und Fussballfieber. Wird er fündig? Ein Stimmungsbericht aus dem grössten Public Viewing in Winterthur.
24.11.2022, 17:1324.11.2022, 17:15
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Donnerstag, 10:15 Uhr: Eiskalter Regen schlägt einem ins Gesicht, wenn man vom Winterthurer Hauptbahnhof zur «Winti-Arena» läuft. Die Menschen sehen aus wie genervte Schildkröten: leicht eingezogener Hals, zusammengekniffene Augen. Einfach möglichst schnell ans Ziel. Fussball-Stimmung? Eher nicht.

Wäre es Juli, würden betrunkene Menschenmassen die ganze Stadt mit schlecht gesungenen Fanliedern einnehmen.

Das ist natürlich nicht jedermanns Sache. Vielleicht hat diese WM ja etwas Gutes: Die Johler können johlen, einfach in gut geheizten Wohnungen oder Bars, abgeschnitten von den Nicht-johlenden. Alles hat seinen Platz, sehr Schweizerisch.

Doch gibt es die Johlenden überhaupt? Menschenrechtsverletzungen und nasskaltes Novemberwetter findet man normalerweise nicht im Baukasten für gute Laune.

Auch die «Winti-Arena» liegt nicht gerade bei der Schinkenstrasse auf Mallorca. Zwischen Autowäsche und Schutz & Intervention Winterthur soll es aber sein, das Fussballfieber. Ein Public Viewing wie die Containersiedlungen der Gastarbeiter in Katar: Etwas versteckt vor der Öffentlichkeit. Hier aber vermutlich unbewusst.

Katar-Boykott? Nö.

10:45 Uhr, die «Winti-Arena» ist voll. Einige sehen so aus, als machten sie eine verlängerte Mittagspause. Die meisten scheinen ihren Besuch aber schon lange geplant zu haben. Sie tragen Nati-Shirts und Nati-Schals. Ein Mann mit leicht schielendem Blick – drittes, vielleicht viertes Bier – trägt einen riesigen Plastik-Emmentaler auf dem Kopf. Ein anderer ist als Fussball verkleidet.

Die Veranstalter geben sich Mühe: An der Brüstung hängen alle Flaggen der teilnehmenden Länder. Grüner Filzboden für das Stadion-Gefühl, Holzbänke für das sommerliche Biergarten-Gefühl. Unter der Leinwand ist ein kleines DJ-Pult aufgestellt, darauf steht «Ohne Bass kein Spass». Aus den Boxen dröhnt «Ma Chérie» von DJ Antoine.

«Mir säged: Hopp Schwiiz!», predigt der DJ wie ein Rekommandeur auf der Chilbi und lässt den nächsten Plastikbeat aus der Lautsprecheranlage scheppern. Auf der Leinwand läuft SRF2, Werbung. Ausschliesslich Fussballwerbung. Katar-Boykott? Nö.

«De Vargas muss eifach mal schüsse»

«Beim Eröffnungsspiel waren vielleicht 100 Leute da», sagt Patrice Frauenfelder, Teamleiter in der «Winti-Arena». Heute seien es 500. Er hat eine Igelfrisur und ein Walkie-Talkie, das ihm gefährlich weit aus seiner Gesässtasche hängt. «Die Leute müssen sich zuerst ein wenig an die Winter-WM gewöhnen, aber das kommt schon. Heute ist ein Arbeitstag und es sind 500 Menschen hier. Wir sind zufrieden», sagt Frauenfelder.

10:55 Uhr, die Schweizer Nationalhymne ertönt. Die Leute stehen auf, legen die Arme über die Schultern des Nachbarn und singen besser, als so mancher Nati-Spieler.

Finde den Emmentaler.
Finde den Emmentaler.bild: dfr

11:00 Uhr: Anspiel. Shaqiri passt den Ball nach hinten, die Meute klatscht, sitzt ab, Ruhe. Sie hört Sascha Ruefer zu, als wäre es Pflichtstoff für eine anstehende Prüfung.

Die Schweizer dominant, doch die Kameruner haben die besseren Chancen. Die Anspannung liegt so schwer in der Luft, man kann sie fast greifen. Es wird mit kleinen, schnellen Schlücken am Bier genippt, die Nachschub-Pitcher schlängeln sich geräuschlos durch die Bankreihen. Ein Security mit blonden Haaren und rot unterlaufenen Augen läuft den Raum hoch und runter. Er wirkt ernst. Wegen des Spiels oder den Gästen – man weiss es nicht.

11:50 Uhr. Halbzeit, es steht 0:0. Eine Gruppe betrunkener Fans isst Älplermagronen und jasst. Die Fussballexperten im Raum stellen Stammtisch-Analysen auf, was in der zweiten Hälfte besser gemacht werden muss («de Vargas muss eifach mal schüsse»). Der Junge am Nachbartisch mit dem Flaum über der Oberlippe googelt, wo Kamerun liegt.

Hier herrscht Fussballfieber

12:05 Uhr. Das Spiel geht weiter. Es sitzen noch nicht alle, da trifft Breel Embolo. Gerade Embolo, der in Kamerun geboren ist. Es brechen alle Dämme. Man steigt auf die Bänke, fällt sich in die Arme, schmeisst Bier durch die Halle.

Da ist es, das WM-Feeling. Auf einer kleinen, künstlichen Insel, versteckt im Industriequartier Winterthur. Hier herrscht Fussballfieber. Ein Gefühl, das nach Bratwurst, Angstschweiss und leeren Plastikbierbechern riecht.

Jetzt ist die Meute geladen (und betrunken). Bei jeder guten Aktion der Schweizer wird geklatscht, bei jedem vermeintlichen Fehlentscheid des Schiedsrichters gepfiffen. Es wird «Hopp Schwiiz» skandiert und «Olé Olé» gesungen. Dass die Kameruner einige Male knapp den Anschluss verpassen, interessiert nur noch am Rande.

Patrice Frauenfelder von der «Winti-Arena» ist sich sicher: «Jetzt geht es Schlag auf Schlag. Die Anspielzeiten werden besser, spannende Partien stehen an, die Menschen haben sich an die Winter-WM gewöhnt.»

Nach dem Abpfiff applaudiert die Menge, der Security mit rot unterlaufenen Augen verkneift sich das Lächeln. Beim Ausgang versuchen die regionalen TV-Sender, die ulkigsten Fans vor die Kamera zu bekommen. «Jo es isch schwierig gsi, aber mer hends verdient», lallen zwei Männer mit flauschigen Schweiz-Zylindern ins Mikrofon.

Eigentlich ist alles wie immer. Nur die kalte Novemberluft irritiert ein wenig.

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52 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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mitchfuchs
24.11.2022 18:13registriert Mai 2020
Ein 11 Uhr Spiel an einem Arbeitstag für das Mass der Fussballstimmung nehmen? Nun ja.
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Magenta
24.11.2022 22:03registriert März 2018
Offtopic: Ich bin grosser Fussballfan, habe aber den "Weg damit"-Button aktiviert, weil ich diese WM so gut es geht ignorieren möchte. Trotzdem tauchen immer wieder einzelne WM-Artikel (z.B. dieser...) auf, was mich echt ärgert. Ist da die Kategorisierung nicht sauber gemacht im Hintergund? An Cache oder Cookies liegt es nicht. Die (vereinzelten) WM-Artikel sind da - Button aktiv oder nicht.. Geht es andern auch so?
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AdiB
24.11.2022 21:01registriert August 2014
Bei uns auf der baustelle arbeiteten um 11 uhr nur die polen und einer der die wm boykottiert, aber nicht wegen menschenrechte, sondern weil es in einem islamischen land stattfindet. Er findet orban einen geilen typen und putin hat recht auf die ukraine.
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