Den watson-Reportern schlottern die Knie: Florian, ganz in schwarz gekleidet, steigt mit dem Fallschirm auf dem Rücken auf die Brüstung eines Hochhauses in Bern-Wittikofen, einer Satelliten-Siedlung im Osten der Bundesstadt. Der Himmel brennt kurz nach Sonnenuntergang. Die Bise bläst uns ins Gesicht. 67 Meter geht es in die Tiefe. Die Wetterbedingungen sind nicht ideal. Wir können kaum mehr hinschauen. Dann atmet der 30-jährige Extremsportler noch einmal tief durch – denn jeder Sprung kann der letzte sein.
«1,2, los»: Mit einem Rückwärtssalto springt Florian, der seinen Nachnamen nicht lesen will, von der Hochhauskante ins Nichts. Kopfvoran rast er auf den Boden zu. Dann das erlösende Geräusch. Der Schirm öffnet sich. Sieben Sekunden später landet er direkt neben einem Spazierweg auf einer Wiese. Die verdutzten Passanten trauen ihren Augen nicht. «Isch dä vom Hochhus gumpet, vom oberste Stock?», fragt ein Mädchen. Florian will kein Aufsehen erregen und macht sich so rasch als möglich aus dem Staub.
Was er uns verschwiegen hat: Soeben hat er den tiefsten Sprung seines Lebens gewagt. Und mit der spontanen Salto-Einlage hat er noch eins oben drauf gesetzt.«Next level», erklärt er später mit einem Grinsen auf dem Gesicht. Zeit, zu reden.
Florian, was geht in dir vor, wenn du springst?
In dem Moment gibt man sein Leben für den Sprung. Es ist das unfassbarste Gefühl, das man sich vorstellen kann. Es ist die absolute Freiheit. Ich habe keinen Gedanken im Kopf, keine Angst, fühle keinen Stress. Der Moment ist pur und rein.
Es geht dir um den Kick?
Es geht darum, das Leben so intensiv wie möglich zu spüren. Klar bin ich unmittelbar vor dem Sprung aufgeregt. Aber die absolute Kontrolle ist das A und O. Einen grossen Adrenalinkick verspüre ich nicht mehr. Vielmehr erlebe ich Glücksgefühle nach der Landung. Fliegen ist ein Traum, der die Menschen seit jeher begleitet. Ich lebe diesen Traum.
Warum stürzt du dich von Hochhäusern in die Tiefe?
Einmal lief ich auf dem Heimweg über die Berner Monbijoubrücke. Da dachte ich: Wie geil wäre es, von dort runterzuspringen – ohne dass ich sterbe. So hat alles angefangen.
Wie wird man Basejumper?
Ich fing mit Fallschirmspringen an. Dann sah ich auf Youtube Videos von Basejumpern. Da wusste ich: Das will ich auch tun. Inzwischen habe ich in zweieinhalb Jahren 350 Sprünge gemacht. Wenn möglich springe ich jedes Wochenende. In Lauterbrunnen bis zu sechs Mal täglich. Durch das Basejumpen habe ich erst richtig gelernt, zu leben.
Wie bereitest du dich auf einen Sprung vor?
Wenn ich von Kränen oder Hochhäusern springe, ist die Frage, wie man überhaupt zur Absprungstelle hochkommt. Das ist oft eine Grauzone. Ich habe auch schon Anzeigen gekriegt. Weiter falte ich den Schirm möglichst sorgfältig, damit er möglichst rasch aufgeht. Denn bei tiefen Sprüngen zählt jede Sekunde. Oben angekommen, messe ich mit einem Lasergerät die exakte Höhe des Gebäudes.
Die ausschweifenden Jahre sind passé. Heute bleibt Florian abends lieber zu Hause, statt auf die Gasse zu gehen. Eine tiefe Narbe im Gesicht und unzählige Tattoos am ganzen Körper zeugen von wilderen Zeiten.
Heute lebt er dafür mit seinem Hobby buchstäblich am Abgrund. Alleine in den letzten zwei Monaten hat er drei gute Freunde beim Basejumpen verloren. In den Dolomiten filmte er gar, wie sein Kumpel nach einem missglückten Absprung auf einem Felsen aufschlug und starb. Florian reinigte später den blutdurchtränkten Anzug seines Freundes. Tags darauf sprang er schon wieder vom Felsen. «Für mein Alter sah ich schon viele Leute sterben», sagt er trocken. Der Berner weiss: Er kann der Nächste sein. Für den Fall der Fälle hat er Vorkehrungen getroffen. Organspendeausweis, Exit-Mitgliedschaft, Rega-Gönnerausweis.
Was geht in dir vor, wenn deine Freunde sterben?
Kürzlich sass ich in einer Vorlesung, als ich per Whatsapp eine Todesnachricht erhielt. Da musste ich schon kurz aus dem Zimmer gehen. Aber ich kann relativ gut mit Todesfällen umgehen. Im Gegensatz zu vielen anderen aus der Szene. Denn mir ist bewusst, was ich mache. Und was die Risiken sind. Aber natürlich gehe ich den Toten auch lieber aus dem Weg.
Basejumper werden selten alt. Hast du keine Angst vor dem Tod?
Nein. Dann sterbe ich bei etwas, das ich liebe. Der Tod gehört sowieso zum Leben. Es ist keinesfalls so, dass mir mein Leben egal ist. Es gibt sicher Momente, wo man einen Schritt zurück machen muss. Das mache ich jedoch nicht oft (schmunzelt). Für mich ist der Tod aber weit weg bei diesem Sport.
Hast du schon brenzlige Situationen erlebt?
Klar, das passiert jedem Basejumper früher oder später. Kürzlich hatte ich in Lauterbrunnen viel Glück, als es mir den Schirm verdrehte und ich fast in eine Felswand krachte. Ich konnte gerade noch rechtzeitig abdrehen. Dann bin ich aber so tief über die Bäume geraten, dass ich die Füsse hochziehen musste.
Bei einer anderen Situation wählte ich eine Flugbahn, die knapp über Felsspitzen führte. Statt mit vier bin ich bloss mit einem Meter Abstand drübergeflitzt. Das war wirklich knapp. Man muss aber die Verhältnisse sehen: In Lauterbrunnen sterben zwei Basejumper auf 20'000 Sprünge.
Was sagt deine Freundin zu deinem Hobby?
Meine Freundin wusste von Anfang an, dass ich diesen Sport ausüben wollte. Sie weiss, wie viel mir das Springen bedeutet und unterstützt mich dabei.
Will dich denn niemand vom Springen abhalten?
Mein Vater hat anfangs leer geschluckt. Inzwischen hat er sich damit abgefunden. Es gibt immer wieder Kollegen, die mich vom Basejumpen abhalten wollen. Die meinen, es sei nach all den Sprüngen an der Zeit, aufzuhören. Andere Kumpel ignorieren die Sache und finden es sowieso doof.
Was muss passieren, damit du aufhörst?
Ich müsste wohl sterben. Basejumpen hat mein Leben extrem bereichert. Ich lebe von Jahr zu Jahr und gehe davon aus, dass ich nächsten Sommer noch lebe.
Florian spricht über den Tod, als würde er über seine neue Briefmarkensammlung Auskunft geben. Es ist eine schon fast unheimliche Ruhe, mit welcher der Extremsportler über sein mögliches Ende philosophiert.
Wo liegen deine persönlichen Grenzen?
Tiefer als aus 50 Metern Höhe springe ich nicht. Es ist aber vielmehr die Frage, wie weit man sich über die Grenzen hinauswagen will. Es gibt eine Faustregel bei uns Basejumpern: Alle 100 Sprünge verdreht es einem den Schirm, egal wie gut man ihn packt. Ich bereite meine Sprünge akribisch vor. Das tun nicht alle. Es gibt Typen in der Szene, die werfen sich am Abend LSD ein und springen am nächsten Morgen. Nüchtern sind sie dann bestimmt nicht.
Wenn sich Florian in die Tiefe stürzt, ist seine auf dem Helm montierte GoPro-Kamera meistens mit dabei. Auf Instagram postet er die spektakulärsten Bilder und Videos seiner Sprünge. Oder zeigt auf, wie er mögliche Absprungsorte auskundschaftet.
Wie wichtig ist Instagram bei deinen Jumps?
Es ist natürlich geil, coole Shots von mir zu posten. Ich will meinen Leuten zeigen, wenn ich eine tolle Linie geflogen bin. Immer wieder sprechen mich wildfremde Menschen auf meine Sprünge an, die sie auf Insta gesehen haben.
Was ist dein grösster Traum?
Ich möchte im berühmten Yosemite Valley in Kalifornien springen. Da muss man wegen der Polizei höllisch aufpassen. Die Aguille du Midi bei Chamonix machen. Dieses Bild habe ich schon lange im Kopf. Dann will ich mir bald einen Wingsuit-Anzug zulegen, damit ich noch krassere Flüge machen kann.
Zurück beim Hochhaus in Bern-Wittikofen. Nach dem spektakulären Sprung ist Flo aus dem Häuschen. «Mitten im Wohnquartier zu springen ist natürlich ein besonderer Nervenkitzel», sagt er. Auf der Risiko-Skala von 1-10 stuft er den Hochhaus-Stunt als eine fünf ein. Für ihn scheint es das normalste der Welt, sein Leben für diese Glücksgefühle aufs Spiel zu setzen.
Nach dieser Grenzerfahrung zwischen Leben und Tod bleibt bei den watson-Reportern ein verstörendes Gefühl im Magen zurück. Warum tut man so was? Eine Frage, die uns Stunden später etwas ratlos zurücklässt.