Der Bass dröhnt in den Ohren. Der Schritt ist beschwingt von der Musik. So läuft der junge Mann durch Zürichs Strassen. Er ist gut gelaunt. Bei einem Fussgängerstreifen angekommen blickt er nur kurz auf und dann wieder aufs Handy, wo er seine Kopfhörer angeschlossen hat.
Dann will er die Strasse überqueren. Doch mehr als einen Schritt kann er nicht unternehmen. Ein Hupen. Reifen quietschen. Dann erfasst ein Auto den Mann mit hoher Geschwindigkeit. Diese Szene stammt aus einem Werbespot der Beratungsstelle für Unfallverhütung (BfU). Schon vor acht Jahren wollte sie damit auf die Gefahren durch Ablenkung im Strassenverkehr – ganz besonders durch Handys – aufmerksam machen.
Ob dieses Video, das wortwörtlich einfährt, etwas bewirkt hat, ist fraglich. Wer heute auf den Strassen unterwegs ist, sieht indes immer wieder weisse, kabellose Kopfhörer in den Ohren von Passanten, Autofahrerinnen, Velofahrern, E-Scooter-Fahrerinnen.
Viele der Modelle – etwa AirPods – können mit einer Noise-Cancelling-Funktion Umweltgeräusche komplett ausblenden. Was beim Staubsaugen oder auf einem langen Flug willkommen ist, kann im Strassenverkehr jedoch Lebensgefahr bedeuten. Das Bimmeln eines Trams, das Hupen eines Autos, die Sirene eines Krankenwagens, der warnende Schrei einer Passantin – all das hört man nicht mehr.
Allein im Kanton Zürich kamen 2022 aufgrund von Unaufmerksamkeit oder Ablenkung drei Personen im Strassenverkehr ums Leben. Das geht aus der Verkehrsunfallstatistik der Kantonspolizei hervor. Schwere Verletzungen zogen sich 105 Personen aus denselben Gründen zu. Es überrascht darum nicht, wenn Mara Zenhäuser, Mediensprecherin der BfU, sagt:
Unter die Kategorie «Unaufmerksamkeit/Ablenkung» der Verkehrsunfallstatistik fällt etwa das Herumfummeln am Radio oder Navi im Auto, der Blick aufs Handy oder eben das Tragen von Kopfhörern, welche die Sinne trüben. Doch ob die Noise-Cancelling-Technologie die Unfallzahl signifikant beeinflusst, lässt sich nicht nachweisen. Denn die Polizei erhebt diese Daten nicht.
Und selbst die BfU kann basierend auf ihren jährlich stattfindenden Beobachtungen im Verkehr nicht eruieren, inwiefern geräuschreduzierende Kopfhörer das Unfallrisiko erhöhen. Denn von aussen sieht man nicht, um welche Kopfhörerart es sich handelt. «Grundsätzlich kann man aber davon ausgehen, dass das Hören von Musik beziehungsweise insbesondere das ‹sich Abschotten› im Strassenverkehr nicht vorteilhaft ist, da Kommunikation auch über auditive Reize passiert», sagt Zenhäuser. Besonders problematisch sei diese Voraussetzung für Velofahrerinnen und Fussgänger.
Und wie sieht es mit den weissen Stöpseln im Ohr während des Autofahrens aus? Tatsächlich ein wenig anders. Zenhäuser sagt: «Gewisse Studien konnten auch positive Effekte auf das Unfallrisiko nachweisen, wenn man beim Autofahren geräuschreduzierende Kopfhörer trägt.» Aggressives Fahrverhalten konnte beispielsweise vermindert werden. Und in monotonen Situationen erhöhte sich gar die Aufmerksamkeit und Konzentration der Autofahrerinnen und Autofahrer. Dabei komme es aber auch ein wenig darauf an, was man höre.
Selbst Versicherungen wie die SUVA tappen in Bezug auf das Unfallrisiko im Zusammenhang mit geräuschreduzierenden Kopfhörern im Strassenverkehr noch im Dunkeln. Dies, weil auf einem Unfallprotokoll nicht angegeben werden muss, ob die Beteiligten Kopfhörer trugen. Deshalb übernimmt die SUVA auch in diesen Fällen die Kosten, die durch einen Unfall entstehen.
Ohnehin sei es von Gesetzes wegen in der Schweiz nicht verboten, als Fahrzeugführer Kopfhörer zu tragen, heisst es von der SUVA. Sie erklärt: «Art. 31 Abs. 1 SVG (Strassenverkehrsgesetz) in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 VRV (Verkehrsregelverordnung) legt fest, dass der Fahrzeugführer das Fahrzeug ständig so beherrschen muss, dass er seinen Vorsichtspflichten nachkommen kann. In Bezug auf Tonwiedergabegeräte, beispielsweise AirPods, ist geregelt, dass der Fahrzeugführer dadurch nicht in seiner Aufmerksamkeit beeinträchtigt werden darf.»
Die Missachtung von Verkehrsregeln werde erst bei einer groben Verletzung zu einem Vergehen im strafrechtlichen Sinne. Somit würde es vermutlich ausserordentliche Umstände brauchen, dass das Tragen von AirPods zu einer Leistungskürzung durch eine Versicherung führen würde.
Fazit also: Geräuschreduzierende Kopfhörer sind nicht per se schlecht für den Verkehr, solange wir uns damit nicht komplett von unserer Umwelt entkoppeln und unaufmerksam werden. Trotzdem rät die BfU: Multitasking vermeiden, Handy in der Tasche lassen, den Verkehr immer im Blick haben und immer anhalten, wenn ein Gerät unsere Aufmerksamkeit braucht. Diese Massnahmen gelten für alle, von der Fussgängerin bis zum Autofahrer.