Jetzt sitze ich also da. Auf dem Sofa. Nachdem ich endlich mal wieder ausschlafen konnte. Gemacht habe ich nicht viel heute. Wie oft habe ich mir in den letzten Wochen diesen Moment herbeigesehnt. Die Sonne scheint draussen. Aber das ist mir gerade ziemlich egal.
Auf dem Höhepunkt soll man aufhören. Ich glaube, es ist mir bei der «Tour dur d'Schwiiz» ziemlich gut geglückt. Petrus zementierte unsere Freundschaft nochmals mit Prachtswetter, diverse Mitfahrer sorgten für Kurzweil und das Berner Oberland spielte in den letzten Tagen seinen Charme aus. Trümmelbachfälle, Habkern, Harder Kulm, Iseltwald – alles Orte, von denen ich vorher nicht oder kaum gehört hatte. Dazu das Lauterbrunnental, Grindelwald vor der imposanten Eigernordwand, das Jungfraujoch natürlich und traumhafte Strässchen nördlich am Thuner- und südlich am Brienzersee entlang.
Nach dem Brünig gab sich Obwalden grösste Mühe, das noch zu toppen: die Aussichten auf den Lungernstausee und den Sarnersee, das nette Altstädtchen Sarnens und die Älggi-Alp, der Mittelpunkt der Schweiz. Es waren wunderbare letzte Kilometer.
Und unfassbar anstrengende. Zumindest die letzten elf der total 10'660. 1100 Höhenmeter strampelten meine sechs Mitfahrer und ich dabei weg. Ich weiss nicht recht, was ich mir überlegt hatte, als ich die Älggi-Alp als Zielort bestimmte (bis zu 22 Prozent Steigung und eine der anstrengendsten Anstiege der Schweiz, danke für den Hinweis Chris Rikli). Gross recherchiert hatte ich nicht, wie es da aussieht. Ich wollte einfach einmal da hin und fand das passt noch zu einer Tour dur d'Schwiiz, dass diese in deren Mittelpunkt endet.
Die letzte der 2324 Schweizer Gemeinden ist schon unten auf gut 500 Metern mit Sachseln erreicht. Die Kollegen im Büro pushen, dass ich es geschafft habe. Dabei kommt jetzt noch das Dessert. Ein allerdings nicht nur süsser, sondern auch saurer Nachtisch. Dieser Aufstieg. Wir leiden alle. Mitfahrer Remy fragt dann auch mal ganz unschuldig: «Gell, eigentlich müssten wir nicht mehr hier hoch?» Ja, eigentlich nicht. Aber es gibt einfach ein paar Orte, die ich unbedingt sehen wollte. Allerdings hätte ich die Älggi-Alp womöglich auch wieder gestrichen, hätte ich gewusst, wie man die erreicht.
Erst vor drei, vier Wochen, als ich abklärte, ob sich dort was organisieren lässt und mir das Restaurant mitteilte, dass sie ab dem 18. Oktober Winterpause machen und alles abschalten über die kalten Monate wurde mir bewusst, dass es da vielleicht noch etwas anstrengend werden könnte. Gut beim Namen «Alp» und Obwalden hätte ich das ja schon vorher ahnen können. Aber manchmal ist etwas so offensichtlich, dass man einfach drüber weg sieht. Geht euch sicher auch so.
Naja, die Wirtin des Restaurants Älggi-Alp meint am Telefon auf jeden Fall: «Jetzt grad schneit es bei uns. Ich weiss nicht, ob ihr Ende Oktober hier noch hochfahren könnt.» Ein genauerer Blick auf die Karte verriet dann auch: Älggi-Alp, 1650 Meter über Meer. Ja, da kann es zu dieser Jahreszeit auch richtig ungemütlich werden. Es fällt mir wie Schuppen von den Augen. Alp + Obwalden + Ende Oktober = da willst du normalerweise nicht mit dem Velo hin.
Doch wie erwähnt: Petrus und ich, wir wurden mit ganz wenigen Beziehungstiefs während den letzten vier Monate dicke Freunde. Und er sorgte dafür, dass das Wetter mitspielt. Leider macht allerdings selbst die Sonne Anstiege nicht flacher. Erst wenige Tage vor der Schlussetappe wurde mir bewusst: eines der härtesten Teilstücke kommt auf den letzten Metern. Meine persönliche Alpe d'Huez sozusagen (diese ist mit «nur» 1090 Höhenmetern auf 13,8 Kilometern allerdings fast wieder zu einfach;-))
Wenigstens war mir da schon klar: Ich gehe sowieso da hoch. Auch wenn ich das Velo tragen und auf einem Bein rückwärts hüpfen muss. Denn so kurz vor dem Ziel hört man nicht mehr auf. Diese Möglichkeit «vergab» ich früher. Zum Beispiel als ich auf der dritten Etappe von Pontresina über den Bernina, runter nach Brusio und 1600 Höhenmeter am Stück wieder hoch auf den Bernina fuhr (1600 Höhenmeter auf 29 Kilometern). Bei gefühlten 40 Grad. Oder bei der Alpe di Neggia, wo du auf 13 Kilometern 1200 Höhenmeter zurücklegst.
Diese zwei Bergfahrten bleiben aber nicht nur als anstrengend in Erinnerung, sondern auch als Knackpunkte. Nachdem ich am dritten Tag zweimal über den Bernina fuhr, sagte ich mir bei jedem anderen Anstieg von beispielsweise 500 Höhenmetern: Ach, das ist ja nicht mal ein Drittel vom Bernina. Den hast du geschafft, dann schaffst du das auch. Und nach der 15. Etappe auf die Alpe di Neggia haute mich keine Steigung mehr um. Alles was ich noch denken konnte war: Wer auf die Alpe di Neggia strampelt, der fährt überall hoch.
Und so war es dann auch bei der Älggi-Alp. Wichtig ist vor allem anzufangen. Genügend Pausen gönnten wir uns natürlich – die Aussicht will schliesslich genutzt werden. Ob Wehmut aufkomme, fragte mich Simon während der Fahrt. Er selbst kannte das Gefühl wohl am besten, fuhr er doch vor zwei Jahren in 28 Tagen ans Nordkap. Ich hatte kaum Luft zum antworten. Und auch keine Worte. «Vielleicht grad nicht der beste Moment, um das zu fragen», lachte Simon. Aber ja, tatsächlich hatte ich gar keine Zeit für Wehmut. Jetzt sind wir erstmal oben. Es gibt einen herrlichen Empfang, wir grillieren, plaudern, geniessen. Die Anstrengung ist innert Kürze vergessen.
Aber die Wehmut wird schon noch kommen. Zum Beispiel, wenn ich zu lange nichtstuend auf dem Sofa sitze. Die Sonne strahlt wie erwähnt. Eigentlich ideal um raus zu gehen, auf das Velo zu sitzen und eine Runde drehen. Soll ich? Hmmm, nein.