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Offizielle Schweiz zurück in der Ukraine

Manuel Bessler (rechts im Bild) gibt Instruktionen: Zelte, Schlafsäcke, Matratzen und medizinische Hilfsgüter werden von Zürich nach Polen geflogen. (Aufnahme vom 1. März 2022)
Manuel Bessler (rechts im Bild) gibt Instruktionen: Zelte, Schlafsäcke, Matratzen und medizinische Hilfsgüter werden von Zürich nach Polen geflogen. (Aufnahme vom 1. März 2022)

Offizielle Schweiz zurück in der Ukraine: «Die humanitären Bedürfnisse sind gigantisch»

Die Schweiz hat wieder ein Büro für humanitäre Hilfe in der westukrainischen Stadt Lviv. Der Delegierte des Bundesrates, Manuel Bessler, sagt im Gespräch, warum die humanitäre Arbeit in der Ukraine frustrierend ist.
21.04.2022, 22:01
Nina Fargahi / ch media
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Seit einigen Tagen hat die Schweiz wieder ein Büro in Lviv. Wie ist die Lage dort?
Manuel Bessler:
Aus Sicherheitsgründen war die humanitäre Hilfe bis Mitte April in Polen und Moldova stationiert und es war für uns oft frustrierend, nur bis zur Grenze gehen zu können. Seit einer Woche nun haben wir eine sogenannte Operationsbasis in Lviv, in der Westukraine. Lviv ist eine grosse Stadt mit 720’000 Einwohnern. Seit dem Krieg gibt es in der Stadt zusätzlich über 400’000 Binnenvertriebene; das heisst jede und jeder Dritte in Lviv ist ein Kriegsvertriebener. Die humanitären Bedürfnisse sind dementsprechend gigantisch.

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Was genau machen die Schweizer Deza-Mitarbeitenden dort?
Wir haben drei Aktionslinien: Erstens sind unsere Ingenieure und Wasserexpertinnen und -experten daran, zusammen mit den lokalen Behörden die beschädigte Wasser-Infrastruktur zu reparieren. Zweitens unterstützen wir die lokalen Spitäler, die überfordert sind. Drittens versuchen wir, Lviv als Basis zu nehmen, um auch weiter ostwärts humanitär tätig zu sein, zum Beispiel mit Nahrungsmittellieferungen. In vielen Städten im Osten der Ukraine fehlt es an allem, unter anderem auch an Mehl, Milchpulver, Weizen und Öl.

Staatsgebiet Ukraine
Staatsgebiet Ukrainequelle: osm, lizenz: odbl 1.0/grafik: let

Wie wird die Sicherheit für die Deza-Mitarbeitenden gewährleistet?
Es ist ein wichtiges Gebot der humanitären Hilfe: Wir arbeiten oft in fragilen Kontexten und dürfen dabei andere und auch uns selbst nicht gefährden. Drei von unseren elf Mitarbeitenden in Lviv sind Sicherheitsberater vom VBS, sie analysieren tagtäglich die Sicherheitslage und sprechen sich mit Partnern und Behörden ab. Das Büro wurde gezielt in der Innenstadt ausgewählt, es befindet sich keine militärische Infrastruktur in der näheren Umgebung. Es ist eine zivile Region, was uns zusätzlichen Schutz gibt. Die Bombardierung in und um Lviv hatten bis jetzt nur militärische Ziele, es gab keine Flächen-Bombardierungen wie in Kiew oder Mariupol.

Lviv sieht also nicht wie ein Kriegsschauplatz aus?
Das Strassenbild von Lviv ist erstaunlich normal, die Cafés sind offen, die Oper in Lviv spielt, es hat Verkehr in den Strassen. Das Staatsgebiet der Ukraine ist riesig und es gibt sehr viele verschiedene Realitäten in diesem grossen Land. In Lviv kann es mitunter schwierig sein zu realisieren, dass man sich in einem Krieg befindet. Natürlich gilt nachts eine Ausgangssperre, aber es herrscht eine gewisse Normalität.

Die Menschen in Lviv wollen vorerst dort bleiben?
Viele Binnenvertriebene wollen nicht weiterreisen und nach Deutschland oder in die Schweiz kommen. Auch die Botschaft in Warschau hat uns gestern gemeldet, dass es grosse Rückkehrbewegungen in die Ukraine gibt. Vor allem in Regionen in der Westukraine, wo es derzeit relativ ruhig ist. Hingegen ist an eine Rückkehr nach Charkiw, Luhansk, Donezk oder Mariupol derzeit nicht zu denken.

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Vor allem im Osten der Ukraine tobt der Krieg. Haben Sie Zugang zum Beispiel zu Mariupol?
Derzeit unternehmen wir sogenannte In- und Out-Missionen, zum Beispiel nach Odesa und Vinnytisa. Wir hoffen natürlich, dass wir bald und vermehrt weiter in den Osten der Ukraine reisen können, nach Dnipro, Mykolaiv oder auch nach Kiew, wo die Schweiz eine Botschaft hatte, die jetzt vorübergehend geschlossen ist. In der Ukraine war die Deza immer schon sehr aktiv. Aber zurzeit ist es schlicht unmöglich, nach Mariupol zu gehen. Auch das IKRK musste sich von dort zurückziehen. Das ist tragisch, denn in Mariupol befinden sich noch immer über 100’000 Zivilisten, die in Kellern ausharren, ohne Zugang zu Strom, Wasser, Nahrungsmitteln und medizinischer Versorgungen. Dort herrscht ein mittelalterlicher Belagerungszustand.

Warum flüchten diese Menschen nicht aus Mariupol?
Ein grosses Problem ist, dass es keine sicheren Fluchtmöglichkeiten gibt. Manche Menschen können nicht selbstständig fliehen, da sie eingeschränkt sind in ihrer Mobilität, oft handelt es sich um ältere Personen. Oder es sind Leute, die ihre alte Mutter oder ihren gebrechlichen Vater nicht alleine zurücklassen wollen. Der Entscheid zu fliehen, ist ein schwieriger. Man muss von einem Tag auf den anderen alles zurücklassen, was einem lieb und wertvoll ist und wofür man womöglich viel gearbeitet hat. Das können oder wollen manche Menschen nicht hinnehmen.

In der Region Donbass hat Russland diese Woche eine Offensive gestartet. Was sind Ihre Einschätzungen?
Leider werden die kriegerischen Aktivitäten im Osten wohl zunehmen. In der Ostukraine steigen dementsprechend auch die humanitären Bedürfnisse, gleichzeitig ist aber der Zugang dort sehr schwierig, in erster Linie, weil das Völkerrecht nicht beachtet wird und es an sicheren Räumen für humanitäres Engagement fehlt. Die erste Leidtragende in den heutigen Kriegen ist immer die Zivilbevölkerung und die Menschen, die nicht mehr an den Kampfhandlungen teilnehmen wie Verletzte, Kranke oder Gefangene. Im Moment ist es sehr schwierig, sich vorzustellen, wie eine mögliche Lösung des Konflikts aussehen könnte.

Warum?
Kriegerische Auseinandersetzungen gibt es in der Ostukraine ja seit 2014, nicht immer in der gleichen Intensität. Aktuell herrscht aber ein Krieg, der die gesamte Ukraine betrifft und auch für Europa massive Auswirkungen hat. Es besteht das Risiko, dass sich der Konflikt lange hinzieht und zeitweise auch eingefroren wird, ohne eine nachhaltige politische Lösung. Das wäre aber wichtig, denn es gibt keine humanitäre Lösung für politische Probleme. Direkte Gespräche zwischen den Parteien bleiben daher weiter relevant.

Sie sprechen von Frustration. Was ist der Ansporn für Ihre humanitäre Arbeit?
Etwas gegen das grosse menschliche Leid zu tun, das ist unsere Motivation. Ich arbeite seit über dreissig Jahren in der humanitären Hilfe und war vor allem im Feld tätig. Dabei habe ich gelernt, dass man sich leider oft mit kleinen Erfolgen begnügen muss, was angesichts der sehr häufig riesigen Bedürfnisse natürlich sehr frustrierend sein kann. Im Osten der Ukraine müssen wir uns derzeit damit begnügen, das zu machen, was möglich ist, und nicht das, was nötig wäre. Das ist schwierig zu akzeptieren. (aargauerzeitung.ch)

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