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Stahlwerk Asowstal: Was wir wissen – und was nicht

Kampf um das Stahlwerk Asowstal: Was wir wissen – und was nicht

Die russische Grossoffensive auf die Ostukraine soll begonnen haben. Und inmitten des Infernos in der Stadt Mariupol sollen Hunderte von Menschen in einem der grössten Stahlwerke der Welt eingeschlossen sein. Was wir wissen.
20.04.2022, 15:0821.04.2022, 06:37
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«Es könnte meine letzte Erklärung sein, weil uns nur noch wenige Tage oder sogar Stunden bleiben. (...) Wir bitten Sie, uns in das Hoheitsgebiet eines Drittlandes zu bringen, damit wir sicher sind», dieser dramatische Appell hat am späten Dienstagabend die CNN erreicht.

Gekommen ist dieser Hilferuf von Serhjy Wolyna, Kommandeur der ukrainischen 36. Marineinfanteriebrigade. Am frühen Mittwochmorgen folgte noch ein weiterer Hilferuf, den Wolyna als Videonachricht in den Sozialen Medien veröffentlichte: «Der Feind ist uns 10 zu 1 überlegen.»

Doch welche Informationen haben wir über die Situation im Asowstal Stahlwerk? Denn in Mariupol gibt es fast keinen Handyempfang und kein Internet mehr, die Informationen sind entsprechend spärlich. Die letzten unabhängigen Journalisten haben die Stadt bereits vor Wochen verlassen. Die Ukraine kontrolliert die Kommunikation über Truppenzahlen und andere sensible Inhalte streng.

Was wir über das Stahlwerk wissen

Das Eisen- und Stahlwerk Asowstal – eines der grössten Hüttenwerke Europas – scheint zu einem apokalyptischen Bollwerk für die ukrainischen Streitkräfte in der belagerten Hafenstadt Mariupol geworden zu sein. Die Ukraine vermeldete, dass sich die letzten ukrainischen Verteidiger von Mariupol ins Stahlwerk geflüchtet hätten.

Am Montag wurde ein Video veröffentlicht, in dem der ukrainische Kommandeur des Asow-Regiments und Oberstleutnant Denys Prokopenko spricht:

«Die Russen verwenden Freifallbomben, Raketen, Bunkerbomben, alle Arten von Artillerie, sowohl Boden- als auch Marineartillerie für wahllose Angriffe.»

«Wir sind umzingelt, sie bombardieren uns mit allem, was sie können», erzählte der ukrainische Soldat Gasim der «New York Times». Und weiter: «Unser einziger Plan ist, dass die Blockade von unseren Streitkräften durchbrochen wird, damit wir von hier verschwinden können.»

Maxar, ein privates US-Satellitenunternehmen, konnte am Dienstag vom Weltraum aus einen Blick auf das Kampfgeschehen in Mariupol werfen und meldete nach Angaben mehrerer Medien:

«Rauch und Feuer wurden aus einer Reihe von Gebäuden im westlichen und östlichen Teil der Stadt sowie in der Nähe der Eisen- und Stahlfabrik Asowstal – dem Schauplatz der anhaltenden Kämpfe zwischen russischen und ukrainischen Streitkräften – beobachtet.»
epa09896967 A frame grab from an undated handout drone video first published by DPR militia commander Alexander Khodakovsky and made available by the Mariupol City Council shows smoke rising from the  ...
Das Eisen- und Stahlwerk Asowstal in der Ukraine auf einem undatierten Drohnenfoto, das am 18. April vom Mariupol City Council veröffentlicht wurde. Bild: keystone

Asowstal liegt im Osten der Hafenstadt Mariupol, ein riesiger Industriekomplex aus dickem Beton und dicken Mauern, Stahltüren und verstärkten unterirdischen Gängen. Eine gewaltige Festung, die wahrscheinlich so konzipiert wurde, dass sie einem Atomkrieg standhalten könnte.

In Friedenszeiten produziert Asowstal pro Jahr 3,5 Millionen Tonnen Roheisen und 1,2 Millionen Tonnen Walzstahl, wie der Internetseite der Firma zu entnehmen ist. Die Anlage wurde erstmals in den 1930er Jahren von der Sowjetunion errichtet und nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut. Heute gehört sie Rinat Achmetow, dem wahrscheinlich reichsten Mann der Ukraine.

Die Grösse des Geländes kommt den verbliebenen ukrainischen Streitkräften aktuell zugute: «Asowstal ist ein riesiges Gelände mit so vielen Gebäuden, dass die Russen die ukrainischen Streitkräfte einfach nicht finden können», sagte der Militäranalyst Oleh Zhdanov gegenüber dem britischen «Guardian».

Die Ultimaten

Das russische Verteidigungsministerium rief seit Sonntag insgesamt dreimal einen Waffenstillstand für die Umgebung des Werks aus, damit Zivilisten das Werk verlassen könnten. Verbunden war diese Aufforderung jeweils mit einem Ultimatum an die Kämpfer, sich zu ergeben.

Das russische Verteidigungsministerium teilte am Mittwoch mit, dass sich ukrainische Militärs ergeben hätten: mehr als 1000 Soldaten der 36. ukrainischen Marinebrigade, darunter 162 Offiziere. Die Ukraine bestätigte diese Angaben nicht.

Am 19. April erschienen zudem ein Interview in der «New York Times», deren Journalisten es eigenen Angaben zufolge gelang, einige Kämpfer – darunter den oben erwähnten Gasim – im Stahlwerk per WhatsApp zu erreichen. Dieses Interview zeichnet ein etwas anderes Bild des Durchhaltewillens der Soldaten in Asowstal, als es die russischen Angaben befürchten lassen: Das Traditionsblatt schreibt nämlich über die Interviewten, dass sie ausdrücklich darauf bestünden, dass sie den Kapitulationsforderungen des Kremls niemals nachgeben würden – obwohl die Munition und die Vorräte knapp würden.

Gasim soll das Interview beendet haben mit den Worten:

«Sagen Sie Amerika, es soll uns helfen.»

Was wir nicht sicher wissen

Der Nazi-Mythos

Verteidigt wird das Stahlwerk wohl von der 36. ukrainischen Marinebrigade sowie dem Asow-Regiment, eine 2014 von rechtsextremen Nationalisten gegründete Miliz, die später in die Nationalgarde integriert wurde.

Der «Guardian» schreibt, dass das Stahlwerk Asowstal im russischen Kontext direkt mit dem Asow-Regiment in Verbindung gebracht werde. Unter anderem darum, weil einer der Gründer des Asow-Regiments, Andriy Biletskiy, das Stahlwerk im Zuge des Krieges als «die Festung der Asow» bezeichnet habe. Und die Vernichtung der Asow-Nationalsozialisten wurde von Putin als ein Kriegsziel ausgerufen.

Eine EU-Sicherheitsquelle sagte gegenüber Reuters, dass ein Sieg über die Asow-Truppen in Asowstal für Putin sehr wichtig sei, weil er nach einer Kapitulation des Asow-Regiments behaupten könne, dass der «Entnazifizierungs»-Prozess erfolgreich verlaufe.

Darum könnte die vollständige Erstürmung der Anlage für Putin einen besonderen symbolischen Wert haben, wie mehrere Experten in verschiedenen Medien vermuten. Zudem hätte die Einnahme von Asowstal auch praktische Aspekte: Die russische Armee bekäme einen besseren Zugang zum Eisenbahnnetz und zum Hafen.

Die Anzahl der Menschen in den Bunkern

Wie viele Menschen sich zur Zeit in den Bunkern des Stahlwerks befinden, ist nicht klar. Aber es befinden sich wohl Menschen da: Zivilisten und Militärs.

Über die Anzahl der Militärs in den Bunkern ist nicht viel bekannt. Wolyna, der Kommandeur der ukrainischen 36. Marineinfanteriebrigade, spricht in seinen Appellen von «500 verwundenten Soldaten» und «Hunderten von Zivilisten»:

Ein Video, das von Prokopenko am Montag verbreitet wurde, soll die Zustände in den Bunkern des Stahlwerks zeigen. Auch Prokopenko spricht von «Hunderten Zivilisten» in den Bunkern. Im Video sind auffällig viele Kinder zu sehen. Der Kommandant des Asow-Regiments bittet im Video die «Führer der Welt», ihm Hilfe zu schicken:

Galina Yatsura, eine Sprecherin des Unternehmens, dem das Werk gehört, sagte gegenüber der «New York Times», dass die Bunker unter dem Werk seit 2014 stets «in gutem Zustand» gehalten würden. Zudem seien genügend Lebensmittel und Wasser in den Bunkern, um 4000 Menschen für drei Wochen zu versorgen.

Pjotr Andrjuschtschenko, ein Berater des Bürgermeisters von Mariupol, sagte der «New York Times», dass die ukrainische Armee in den vergangenen zwei Wochen zwei Operationen durchgeführt habe, um Lebensmittel in die Anlage zu bringen. Die Lage werde allerdings immer schlimmer, da die russischen Truppen jeden daran hinderten, die Stadt zu betreten oder zu verlassen.

Am Mittwoch, 20. April, vermeldete die ukrainische Vizeregierungschefin Iryna Wereschtschuk über Telegram: «Uns ist es vorläufig gelungen, einen humanitären Korridor für Frauen, Kinder und ältere Menschen zu vereinbaren.» Ab 14:00 Uhr Ortszeit (13.00 MESZ) könnten diese aus der Stadt ins rund 200 Kilometer entfernte Saporischschja flüchten.

Mariupol – das Herz des Kriegs

Die Vorgeschichte

In Mariupol schwelt der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine seit 2014: Damals brachen in der Stadt mehrere Scharmützel aus zwischen der ukrainischen Regierung und den prorussischen Separatisten, die sich kulturell und sprachlich Russland zugehörig fühlen. Mariupol geriet damals kurzzeitig unter die Kontrolle der Separatisten, bevor die Stadt wieder von der ukrainischen Seite gesichert werden konnte – massgeblich beteiligt an diesem Sieg soll das rechtsnationalistische Asow-Regiment gewesen sein.

Im Januar 2015 wurde Mariupol mit Langstrecken-Raketen beschossen, wobei mindestens 30 Menschen getötet und 128 verletzt wurden. Später im selben Jahr errichteten die ukrainischen Regierungstruppen mehrere Verteidigungslinien am Stadtrand.

Die OSZE-Sonderbeobachtungsmission hielt daraufhin in einem Bericht fest, dass der Raketenangriff «wissentlich auf Zivilisten» verübt worden sei. Drei Jahre nach dem Angriff gelang es der Investigativgruppe Bellingcat zu beweisen, dass der Raketenbeschuss von prorussischer Seite aus befehligt und durchgeführt wurde.

Mariupol während des Ukraine-Kriegs

Mariupol liegt im sogenannten Donbas, wo sich der Krieg zurzeit konzentriert. Der Donbas ist ein Steinkohle- und Industriegebiet im Osten der Ukraine sowie im angrenzenden Russland.

Beim russischen Angriffskrieg auf die Ukraine konnte die Russische Armee Mariupol mittlerweile einschliessen und sichert sich kontinuierlich die Kontrolle über die Stadt. Denn die Volksrepublik Donezk (DNR) – der selbsternannte Staat der prorussischen Separatisten in der Oblast Donezk – beansprucht die strategisch wichtige Hafenstadt Mariupol für sich.

Mariupol liegt in der Oblast Donezk im sogenannten Donbas. Der Donbas ist ein Steinkohle- und Industriegebiet im Osten der Ukraine sowie im angrenzenden Russland. Die Hafenstadt Mariupol grenzt an das ...
Mariupol liegt in der Oblast Donezk im sogenannten Donbas. Der Donbas ist ein Steinkohle- und Industriegebiet im Osten der Ukraine sowie im angrenzenden Russland. Die Hafenstadt Mariupol grenzt an das Asowsche Meer. Bild: screenshot twitter-account @war_mapper / bearbeitet watson

In Mariupol wurden während des Krieges mehrere mutmassliche Kriegsverbrechen dokumentiert.

Ein besonders medienwirksamer Verstoss gegen das Völkerrecht ereignet sich am 9. März, als eine Geburtsklinik in Mariupol durch einen russischen Luftangriff zerstört wurde. 17 Zivilisten wurden verletzt, darunter eine hochschwangere Frau, die später verstarb.

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Diese hochschwangere Frau verstarb nach einem Luftangriff auf eine Geburtsklinik. Auch ihr ungeborenes Baby hat nicht überlebt.Bild: keystone

Ein weiterer gut dokumentierter Vorfall ereignete sich am 17. März: Ein Theater wurde bombardiert, das Zivilisten als Schutzraum diente. Satellitenbilder des US-Unternehmens Maxar zeigen das Theater kurz vor dem Angriff. Dabei sind auf den Bildern vor und hinter dem Gebäude kyrillische Buchstaben zu identifizieren, die das Wort «Kinder» auf Russisch bedeuten.

Das Theater in Mariupol
Das Theater in Mariupol auf den Satellitenbildern des US-Unternehmens Maxar. Vor und hinter dem Gebäude sind kyrillische Buchstaben zu identifizieren, die das Wort «Kinder» auf Russisch bedeuten. Bild: keystone/watson

Der Bürgermeister der ukrainischen Hafenstadt Mariupol erklärte am 12. April gegenüber der Presseagentur AP, dass während der russischen Belagerung Mariupols mehr als 10'000 Zivilisten ums Leben gekommen seien.

Der ukrainische Aussenminister Dmytro Kuleba sagte am 19. April, dass die Hafenstadt praktisch «nicht mehr existiert». Die Ukraine meldete, dass mindestens 95 Prozent von Mariupol während der Kämpfe durch russische Bombardierungen zerstört worden seien:

Dass das Stahlwerk in den nächsten Tagen fallen könnte, scheint immer wahrscheinlicher. Was es für die ukrainischen Zivilisten und Soldaten in den Bunkern oder für den Verlauf des Kriegs bedeutet, scheint aber nicht absehbar zu sein.

Mehr zu den Toten des Krieges in Mariupol:

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46 Kommentare
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Kaffeetante
20.04.2022 15:47registriert März 2021
Wenn die Russen die ukrainischen Soldaten in die Finger kriegen, dann gibt es ein Schlachtfest. Die sogenannte Spezialeinheit von Putin, ist laut Bericht die FSB, das waren auch die, die in Butcha das Massaker angerichtet haben, diese kamen erst nachdem die Soldaten abgezogen sind, das sind Aussagen der Geflüchteten. Das wird im Stahlwerk leider nicht anders sein.
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