Zahlreiche Reporter haben bereits versucht, das Leben im San Quentin State Prison in Kalifornien für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. In den Köpfen vieler Menschen ist es als eines der gefährlichsten Gefängnisse der USA verankert. Zahlreiche Geschichten und Legenden tummeln sich um die Justizanstalt. «Das meiste davon ist nicht wahr», sagt Jeremy L.* über San Quentin.
Wie es dort wirklich zugeht, weiss der 27-Jährige seit gut fünf Jahren. Jeremy ist zum Tode verurteilt worden, nachdem er 2009 wegen mehrerer Tötungsdelikte an Mitgliedern feindlicher Strassengangs festgenommen wurde. Obwohl er seine Unschuld bis heute beteuert, endete er so bereits mit 22 Jahren im einzigen Todestrakt von Kalifornien.
Heute verbringt er seine Zeit am liebsten im Hof. Dort kann er Basketball spielen, Gewichte heben oder um den Platz joggen. Die meiste Zeit aber muss er im Ostblock des Gefängnisses in seiner Gefängniszelle verbringen. Diese ist für Schweizer Verhältnisse spärlich ausgerüstet, reicht aber zum Leben.
Mit Verspätung hat die Technologie auch seine Zelle im ältesten Gefängnis des US-Bundesstaats Kalifornien erreicht: Eine Schreibmaschine erleichtert ihm das Verfassen von Briefen – praktisch sein einziger Kontakt zur Aussenwelt. Seine Zeilen erreichen auch mich in der Schweiz.
Durch die Schweizer Organisation Lifespark vermittelt, habe ich eine Brieffreundschaft mit Jeremy begonnen. Vor gut einem Jahr schrieb ich ihm das erste Mal einen Brief. Seither tauschen wir uns in einem stetigen Briefwechsel aus. Ich schreibe aus meinem Zimmer – er aus seiner Todeszelle. Bereits in seinen ersten Briefen erfuhr ich, wer er ist, was er denkt und woher er kommt.
Aufgewachsen ist der Amerikaner in Compton, einer Stadt bei Los Angeles, die vor allem für ihre hohe Kriminalität unter Jugendgangs bekannt ist. In einer dieser Gangs namens «Bloods» ist Jeremy gross geworden. Mit ihren roten Kleidern symbolisieren sie traditionellerweise den Konflikt mit den blauen «Crips».
Bloods gegen Crips. Rot gegen Blau – was an einen Kindergeburtstag mit «Räuber und Poli» erinnert, wird in der Realität mit Messern und Pistolen ausgetragen. «Die Strassenkriege sind verrückt, die Jugendlichen werden wegen einer Farbe verletzt und getötet», sagt Jeremy über seine Heimatstadt. Seine Kindheit war geprägt durch das Leben auf der Strasse.
Seinen Vater lernte Jeremy nie kennen. Auch zu seiner Mutter hatte er ein gestörtes Verhältnis, denn sie sei mehr mit Partys und Freunden als mit ihm beschäftigt gewesen. Deshalb wuchsen er und seine zwei Brüder, die momentan ebenfalls im Gefängnis sind, bei ihrer Grossmutter auf.
Jeremy beschwert sich wenig über seine jetzige Situation. Die sechs Quadratmeter grosse Gefängniszelle, in der er seit fünf Jahren in Einzelhaft weilt, sei nicht klein, sondern «leider nicht so gross». Das Essen findet er zwar nicht gut, aber er esse es meistens trotzdem. Anstatt seine Briefe mit Selbstmitleid zu füllen, findet Jeremy immer etwas Gutes und freut sich auch über eine Runde Tic-Tac-Toe.
Dieses Spiel, bei dem man auf einem Gitter versuchen muss, drei Kreuze auf einer Reihe zu zeichnen, bevor der Gegner dasselbe mit drei Kreisen geschafft hat, spiele ich mit ihm – in den Briefen, die wir uns gegenseitig schicken.
Trotz seiner positiven Einstellung drückt ihm die eingeschränkte Freiheit und die Aussicht auf eine mögliche Hinrichtung auf die Psyche: «Du musst jeden Tag nehmen, wie er kommt, sonst drehst du durch», sagt Jeremy. Für die Todesstrafe zeigt Jeremy wenig Verständnis: «Ich verstehe dieses System nicht, einige sitzen schon seit über 30 Jahren hier im Todestrakt.» Das Warten sei für viele schlimmer als die Exekution. «Man wartet nur darauf, bis etwas mit einem geschieht», so der 27-Jährige.
Mit seiner Kritik ist Jeremy längst nicht der Einzige, denn die Befürwortung der Todesstrafe sinkt in den USA. Dies zeigt eine im Februar veröffentlichte Umfrage des Pew Research Centers. Während 1996 noch 78 Prozent der amerikanischen Bevölkerung die Todesstrafe unterstützten, sind es heute noch rund 55 Prozent.
Die sinkende Zustimmung zeigt sich auch in der amerikanischen Politik: Im Februar hat Jay Inslee, Gouverneur von Washington, die Todesstrafe wegen wachsender Kritik in seinem Staat ausgesetzt. Laut Associated Press verwies er auf viele Mängel im Justizsystem.
Jeremy wartet heute auf einen Anwalt, der seinen Fall vertritt. Durch das komplizierte Revisionsverfahren warten Todeshäftlinge gute 15-20 Jahre, bis ein endgültiges Urteil gefällt ist. «Die Wahrheit wird mich frei machen, darauf hoffe ich», schrieb er in seinem ersten Brief. Zwischen den Zeilen meiner Briefe sieht er einen Teil der Freiheit, die er selbst vermisst.
*Name geändert