Schweiz
Verbrechen

Neuer Städtevergleich: Wo die Gewalt an Bahnhöfen zunimmt – und wo nicht

Neuer Städtevergleich zeigt: Wo die Gewalt an Bahnhöfen zunimmt – und wo nicht

Eine Spezialauswertung der Kriminalstatistik belegt einen beunruhigenden Trend. Doch die Unterschiede zwischen den Städten sind erstaunlich gross.
03.04.2023, 07:0003.04.2023, 07:09
Andreas Maurer / ch media
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Polizeiposten Olten-City, 17 Uhr. Draussen beginnt für viele Leute der Feierabend. Drinnen hängen sich der Postenchef Raphael Giaccari und sein Stellvertreter Andreas Kehrli kugelsichere Westen um – sie sind Standard für alle Patrouillen. Die beiden Kantonspolizisten machen sich zu Fuss auf den Weg zum Bahnhof Olten. Es ist einer von 900 Kontrollgängen durch diesen Bahnhof, den die Kantonspolizei jährlich durchführt.

Officers of the Swiss Federal Railways Transport Police pictured at Biel train station, Switzerland, on August 18, 2015. (KEYSTONE/Christian Beutler)
Polizisten am Bahnhof Biel (Archivaufnahme).Bild: KEYSTONE

Die Polizisten schreiten durch die Bahnhofsunterführung und grüssen links und rechts. Sie werden immer wieder angesprochen. Jemand will eine Zugverbindung wissen, ein anderer seine Geschichte erzählen.

Die Polizisten nicken in der Unterführung auch einer Frau und einem Mann zu, die wie die typischen Pendler aussehen, die im Feierabendverkehr durch den Bahnhof eilen. Doch es sind zivile Polizisten, die kurz darauf eine junge Frau kontrollieren und dabei auch die Schuhe durchsuchen. Sie führen eine Schwerpunktkontrolle gegen Drogenkriminalität durch.

Die Polizisten in Uniform betreiben mit ihrem Rundgang vor allem Prävention. Sie wollen Präsenz zeigen, den Leuten ein Gefühl von Sicherheit vermitteln und einschreiten, falls es nötig wird. Die Polizisten in Zivil sind vor allem für die Repression zuständig. Gleichzeitig patrouilliert auch die SBB-Transportpolizei durch den Bahnhof. Es ist eine fein austarierte Sicherheitsarchitektur, welche die dunkle Seite des Bahnhofslebens klein halten soll.

Polizist Giaccari steht in der Unterführung und scannt mit seinen Augen die Pendlerströme. Er sagt: «Am Wochenende wird der Bahnhof zum Treffpunkt.»

Viele Jugendliche und junge Erwachsene starten hier ihren Ausgang, ohne das Ziel zu haben, irgendwohin zufahren. Ihr Ziel ist der Bahnhof, weil immer etwas los und der Alkohol günstig verfügbar ist. Das war schon früher so. Und doch hat sich an den Schweizer Bahnhöfen etwas verändert.

Nationaler Trend: Die Gewalt an Bahnhöfen nimmt zu

Das Bundesamt für Statistik hat auf Anfrage von CH Media eine Spezialauswertung der Kriminalstatistik durchgeführt und alle Gewaltstraftaten mit Tatort Bahnhof herausgefiltert. Dazu gehören zwei Dutzend Delikte von Drohung bis Mord. Die Grundlage der Statistik sind die Strafanzeigen, welche die Kantonspolizeien erfassen.

Die Zahlen zeigen schweizweit einen klaren Trend: Die Gewalt an Bahnhöfen steigt seit fünf Jahren kontinuierlich an und hat im vergangenen Jahr einen neuen Höchstwert erreicht. Mehr als 2000 Gewaltstraftaten mit Tatort Bahnhof wurden erfasst. Jeden Tag kommt es in der Schweiz zu fünf Gewaltdelikten an Bahnhöfen – vierzig Prozent mehr als vor fünf Jahren.

Der Trend passt zur allgemeinen Entwicklung in der Schweiz. Die Gewaltdelikte haben zugenommen. Mit einer Rückkehr des öffentlichen Lebens nach der Pandemie lässt sich die Entwicklung allerdings nicht erklären. Denn es ist nicht nur ein Anstieg gegenüber der Coronajahre, sondern auch gegenüber der Zeit davor. Besonders beunruhigend: Noch nie wurden so viele Fälle schwerer Gewalt wie schwere Körperverletzungen und Vergewaltigungen registriert.

Fakt ist auch: Der Anstieg der Gewalt geht auf ausländische Beschuldigte zurück. 2022 wurden drei Prozent weniger Schweizer wegen Gewaltstraftaten angezeigt – aber sechs Prozent mehr Ausländer. Der Ausländeranteil liegt bei den Gewaltdelikten über 50 Prozent, während er in der Gesamtbevölkerung 25 Prozent beträgt.

Vor allem die grossen Städte haben ein Problem

Das Bundesamt für Statistik hat zudem einen Vergleich der Deutschschweizer Städte mit den grössten Bahnhöfen erstellt. Ausgewählt wurden die zehn Städte, in denen sich die Bahnhöfe mit der höchsten Passagierfrequenz befinden.

Der bürokratische Aufwand für die Auswertung war gross. Denn der Bund gibt die Daten nur für jene Kantone heraus, die sich damit einverstanden erklären. Von den angefragten Kantonen gaben alle grünes Licht – mit einer Ausnahme. Die Kantonspolizei Zug legte ihr Veto ein, mochte aber auch auf wiederholte Nachfrage keine Begründung für die Geheimhaltung nennen. So enthält der Vergleich nun nur neun und nicht wie geplant zehn Städte.

Die erste Erkenntnis ist nicht überraschend: Je grösser der Bahnhof oder die Bahnhöfe einer Stadt, umso mehr Gewalt wird registriert. Überraschend sind aber die unterschiedlichen Trends.

In den drei grossen Städten Zürich, Bern und Basel hat die Gewalt an den Bahnhöfen in den vergangenen Jahren insgesamt zugenommen – im Jahr 2022 aber nur in Zürich und Basel, während Bern zuletzt einen leichten Rückgang verbuchte.

Der Zürcher Hauptbahnhof ist dieses Jahr in die Schlagzeilen geraten, als im Februar ein 26-jähriger Eritreer mutmasslich eine 55-jährige Italienerin angriff und sie mit Faustschlägen und Fusstritten verprügelte – auch als sie schon regungslos am Boden lag. Eine 16-Jährige, die zur Hilfe eilte, soll er danach ebenfalls angegriffen haben. Er sitzt in Untersuchungshaft. Die Zürcher Staatsanwaltschaft hegt einen schweren Verdacht. Er soll versucht haben, gleich beide Frauen umzubringen.

Die Zürcher Kantonspolizei bestätigt, dass es in letzter Zeit im Hauptbahnhof zu mehr Auseinandersetzungen gekommen ist. Deshalb habe sie ihre Präsenz erhöht.

Die Berner Kantonspolizei gibt zu bedenken, dass die Bahnhöfe kaum vergleichbar seien, da das Gebiet jeweils unterschiedlich definiert werde.

Die Basler Kantonspolizei kann den Anstieg in der Statistik nicht erklären. Generell stellt sie fest, dass sich an Bahnhöfen Menschen diverser Kulturen und mit unterschiedlichem sozioökonomischem Status treffen. Wo sich verschiedene Gruppierungen aufhalten, komme es immer wieder zu Problemen, die in Gewalt eskalieren.

Ein Fall, der die Bevölkerung aufwühlte, ereignete sich auch hier im Februar. Eine 46-jährige Frau wurde Opfer eines Sexualdelikts. Die Basler Staatsanwaltschaft fahndet nach einem Mann mit diesen Merkmalen: «schwarze Hautfarbe», «sprach Englisch», «ungepflegte Erscheinung». Tatzeit: Nachmittag. Tatort: eine selbstreinigende WC-Anlage im Veloparking unter dem Centralbahnplatz.

Bei den kleineren Städten fällt auf, dass die Zahlen in Luzern relativ stabil sind und zuletzt sogar gesunken sind. Hier beobachtet die Polizei vor allem an Wochenenden und bei schönem Wetter viele Jugendliche und junge Erwachsene, die am Bahnhof ihre Freizeit verbringen, sowie Randständige und Asylsuchende. Das berge Konfliktpotenzial. Die Polizei sei in diesem Gebiet deshalb im Rahmen der «Brennpunktbewirtschaftung» sehr stark präsent.

In Olten haben die Gewaltdelikte am Bahnhof nur im vergangenen Jahr zugenommen, dafür drastisch. Sie haben sich fast verdoppelt. Die Kantonspolizei stellt generell auf der Regionalzugstrecke Olten-Solothurn-Grenchen und an diesen drei Bahnhöfen fest, dass störendes und deliktisches Verhalten zunimmt. Die S-Bahn-Linie gilt als Drogenumschlagplatz. Deshalb kündigt die Kantonspolizei hier mehr Kontrollen in Zusammenarbeit mit der SBB-Transportpolizei an.

In St. Gallen steigen die Zahlen im Mehrjahresvergleich an, allerdings schwanken sie stark. Die Kantonspolizei mutmasst, es könnte sich um lose Ereignisse an unterschiedlichen Bahnhöfen handeln. Grundsätzlich seien die Bahnhöfe sicher und würden aus polizeilicher Sicht kein Problem darstellen, heisst es.

Als Problem erscheint Aarau in der Statistik. Der Bahnhof hat zwar die tiefste Passagierfrequenz unter den Vergleichsstädten, aber gleich viel Gewaltdelikte wie Winterthur. Die Kantonspolizei bezeichnet den Aarauer Bahnhof als einen von drei Hotspots des Kantons (neben dem Bahnhof Brugg und der Innenstadt von Baden). Als Täter fallen vor allem junge Männer unter Alkoholeinfluss auf. Am Abend und an Wochenenden sei die Polizei deshalb stark präsent und führe Personenkontrollen durch.

Lässt sich Kriminalität mit mehr Polizei reduzieren?

Die vermehrte Präsenz von Polizisten an Schweizer Bahnhöfen dürfte auch ein Grund für den Anstieg in der Kriminalitätsstatistik sein. Je mehr kontrolliert wird, desto mehr Straftaten werden angezeigt.

Soziologe und Gewaltforscher Dirk Baier macht dazu eine überraschende Bemerkung: «Die Idee, dass mehr Polizei automatisch zur Folge hätte, dass die Kriminalität sinkt, ist leider falsch.» Hinter Gewalt stünden persönliche Probleme wie hohe Impulsivität und Reizbarkeit sowie situative Auslöser wie Alkohol- und Drogenkonsum oder die Präsenz von Gruppen. «Auf beides hat die Polizeipräsenz keine Auswirkungen», sagt er.

Was ist also zu tun? Ein Patentrezept hat auch Baier nicht. Zuerst müsste eine systematische Datenauswertung zu den Tätern durchgeführt werden. Eine Untersuchung der Zürcher Oberjugendanwaltschaft zeigte, dass die Gewalttäter an Bahnhöfen jünger werden. Baier: «Wenn tatsächlich primär junge Menschen zu Tätern werden, muss man verstärkt mit aufsuchender Jugendarbeit reagieren.» Sollte es sich hingegen vor allem um Asylsuchende handeln, seien ganz andere Massnahmen nötig, etwa Arbeitsintegration.

Im Bahnhof Olten haben die beiden Kantonspolizisten ihren Rundgang beendet und stehen draussen an der Aare. Giaccari blickt auf 24 Dienstjahre zurück und sagt: «Der Umgang ist rauer geworden.» Es beginne damit, dass sie öfter geduzt werden – aber auch beschimpft und physisch angegriffen. Die Kunst in seinem Beruf sei, all das nicht persönlich zu nehmen: «Denn ich weiss, dass sich die Aggressionen eigentlich nicht gegen mich richten, sondern gegen meine Uniform.»

Die beiden Polizisten schreiten durch die Altstadt zurück zum Polizeiposten. Falls nichts mehr passiert, beginnt auch für sie der Feierabend.

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82 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Snowy
03.04.2023 10:45registriert April 2016
"Fakt ist auch: Der Anstieg der Gewalt geht auf ausländische Beschuldigte zurück. Der Anteil liegt bei über 50%."

Danke watson, dass ihr eure journalistische Sorgfaltspflicht wahrnimmt und auch unangenehme Dinge klar und deutlich anspricht.

Die Leugnung des Umstands, dass Gewalt (vor allem auch gegen Frauen) krass überdurchschnittlich oft aus dem migrantischen Umfeld stammt, kam teilweise fast einer Arbeitsverweigerung gleich.

Niemandem (ausser den gewalttätigen Migranten und der SVP) ist geholfen wenn wir Probleme mit der Migration unter den Tisch kehren.
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Mama Jo
03.04.2023 08:07registriert November 2022
Zürich HB und Bahnhof Luzern lässt sich nur schwer vergleichen. Das Bahnhof Areal Luzern ist x-mal kleiner im Vergleich zum HB Zürich. Beim Busbahnhof/Bahnhof Luzern lungern wirklich oft unangenehme, betrunkene Leute rum die schnell auf Pöbel aus sind. Und sie besetzen die Bänkli für wartende ÖV Fahrer. Das nervt. Wegen meinem Rheuma würde ich die die Sitzgelegenheiten gerne selber nutzen. War auch schon froh, zeigte die Polizei in der Nähe Präsenz. Danke für den guten Job!
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Katerchen
03.04.2023 07:52registriert März 2023
Fakt ist auch: Der Anstieg der Gewalt geht auf ausländische Beschuldigte zurück.
Gerade in grossen Städten ist es viel einfacher für Menschen, die sich nicht an Gesetze halten wollen weil die soziale Kontrolle hier nicht funktioniert!
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