Viele schätzen den Wahlkampf 2023 als flau ein. Wie sehen Sie das?
URS ALTERMATT: Es ist wohl der laueste Wahlkampf seit längerem. Nur die SVP mobilisiert mit Migration und 10-Millionen-Schweiz. Es sieht so aus, als ob die anderen Parteien auf die Demobilisierungsstrategie setzten, mit der Angela Merkel viermal deutsche Bundeskanzlerin wurde.
Jacqueline Badran (SP) schiebt die Schuld auch den Medien zu.
Was auffiel: Viele Interviews mit Parteipräsidenten waren unpolitische Personalityshows, wie etwa die SRF-Kochsendung mit den Parteipräsidenten. Die Medien widerspiegeln aber letztlich, was wohl Parteistrategen und Marketingleute hinter den Kulissen ausgetüftelt haben.
Weder Mitte noch FDP machen ihr enges Rennen um Rang drei zum Thema.
Die Präsidenten Gerhard Pfister und Thierry Burkart haben offensichtlich kein Interesse daran. Pfister will wohl die FDP nicht zusätzlich mobilisieren.
Was sind die wichtigsten Fragen des Wahlkampfs 2023?
Erstens: Schafft die SVP als erste Partei in der Schweiz die 30-Prozent-Hürde seit der Nationalrat im Proporz gewählt wird? Das wäre wirklich historisch. Die SVP würde diese Grenze als erstes überschreiten. Zweitens: Überholt die Mitte die FDP? Und drittens: Wie stark verlieren die Grünen?
Laut neuster Tamedia-Umfrage kommt die SVP auf 28,7 Prozent. Sie liegt nur knapp hinter den 29,4 Prozent von 2015. Kann sie die 30 Prozent knacken?
Ich gehe davon aus, dass die SVP zurückholt, was sie 2019 verlor: 3,8 Wählerprozente. Das wäre also keine Sensation, sondern eine Rückkehr zur Normalität. Migration ist heute das Megathema in Europa.
Die FDP verliert im Tamedia-Wahlbarometer 1,3 Prozent, kommt noch auf 13,8 Prozent. Überrascht Sie das?
Der Zeitgeist läuft gegen die FDP. Das ist paradox, da die Schweiz wirtschaftlich im internationalen Vergleich recht gut abschneidet.
Müsste die FDP nicht stärker punkten mit ihrer Kompetenz bei Wirtschaft und Sicherheit in einer Zeit von Teuerung und Krieg in Europa?
Bis jetzt war das Etikett Wirtschaftspartei ein Argument, die FDP zu wählen. Das funktioniert im Moment nicht mehr. Die Welt ist durcheinander, die Verunsicherung der Menschen gross. Es gibt Krieg in Europa, in der Ukraine. Die Teuerung macht zu schaffen, vor allem Jungen und Studierenden, die früher als Wechsel- oder Erstwähler eher die Linke oder den Freisinn gewählt haben. Das Image Wirtschaftspartei ist im Moment mit dem Untergang der CS verbunden. Die FDP hat nun das Problem der alten CVP: Sie hat zu wenig Wechselwähler. Dazu kommt noch etwas Anderes.
Was?
In ganz Europa sehe ich einen markanten Rechtsrutsch, einen Aufstieg der Rechtsaussen-Parteien, in Italien mit Meloni, in Österreich mit der FPO, in Deutschland mit der AfD. Es besteht eine komplexe Gemengenlage, von der die Grand Old Party, die traditionelle Staatspartei FDP nicht profitiert.
Überrascht Sie, dass die Mitte im letzten SRG-Wahlumfrage erstmals knapp vor der FDP lag?
Nicht wirklich.
Die Fusion von CVP und BDP 2020 war richtig?
Eindeutig. Sie kam zum letztmöglichen Zeitpunkt. Ich habe mich schon vor Jahren für eine solche Fusion ausgesprochen – übrigens mit dem Namensvorschlag Zentrum.
Heute dürfte die Mitte froh sein, heisst sie nicht mehr CVP – denkt man an den Missbrauchsskandal der katholischen Kirche.
Mit dem Namen Mitte verabschiedete sich die neue Partei als Folge der gesellschaftlichen Säkularisierung endgültig von ihrer katholischen Vergangenheit, was sicher in der gegenwärtigen schweren Krise der katholischen Kirche ein Vorteil ist. Im Übrigen ist der Missbrauchsskandal ein Skandal der Amtskirche und ihrer Institutionen, des Klerus und der Bischöfe – und nicht des Kirchenvolkes.
Was macht die Mitte attraktiv?
Das Wort «Mitte» appelliert emotional an «Mass und Mitte» - Tugenden, die in einer polarisierten Welt enorm wichtig sind. Dazu kommt: Die Fusion CVP/BDP gab der Partei mit dem harten Namenswechsel ein neues, nicht so genau definiertes Profil. Im neuen Namen steckt nichts mehr aus der Vergangenheit. Das macht die Partei attraktiv. Dafür gibt es ein interessantes Umfrageergebnis.
Welches?
Eine Umfrage der «Solothurner Zeitung» zeigt, dass die Mitte im Kanton Solothurn, also nicht in einem Stammlandkanton der CVP, ihren Wähleranteil möglicherweise von 14.2 auf 17 Prozent steigern könnte. Diese Gewinne sind höher als in den SRG-Wahlumfragen für die Schweiz. Das ist bemerkenswert. Die BDP hatte in Solothurn keine Tradition, war eine Minipartei. Kantonale Politiker wechselten sogar vor der Fusion zur FDP. Ich ziehe daraus den Schluss, dass der Aufschwung der Mitte nicht nur mit der Fusion von CVP und BDP erklärt werden kann. Es muss noch andere Gründe geben.
Die Mitte gewinnt Wählende aus allen Parteien, mit Ausnahme der SVP. Das zeigt das SRG-Wahlbarometer.
Im Unterschied zur alten CVP gewinnt die Mitte offenbar Wechsel- und Jungwähler. Das ist das Entscheidende, denn die Wechselwähler nehmen zu.
Erstaunlich ist, wie viele Frauen die Mitte anzieht. Weshalb?
Ein Beispiel dafür sind die jungen Dittli-Schwestern. Laura wurde in die Zuger Regierung gewählt, Valérie in die Waadtländer Regierung. Das löste enorme mediale Aufmerksamkeit aus. So etwas hätte man bei den Grünen oder der SP erwartet, nicht aber bei der Mitte. Die Partei müsste den Dittli-Schwestern eigentlich einen Preis verleihen. Sie geben der Partei einen jungen, modernen und femininen Touch. US-Präsident Biden gewann übrigens die Wahl gegen Trump unter anderem mit den Stimmen der Frauen in den urbanen Vorstädten.
Wird die Mitte einen zweiten Bundesratssitz fordern, sollte sie die FDP überholen?
2023 wird nach meinem Dafürhalten die bisherige Zauberformel bestehen bleiben – es sei denn, es gibt einen politischen Erdrutsch. Für Pfister kommt deshalb Mass und Mitte ins Spiel. Umso mehr, als eine wichtige Spielregel bei Bundesratswahlen besagt, dass man keine amtierenden Bundesräte abwählt.
2003 war Ruth Metzler abgewählt worden, 2007 Christoph Blocher.
Ja, das waren Regelbrüche, die die Zauberformel sprengten. Bundesrätin Ruth Metzlers Abwahl war 2003 war ein Tabubruch, der als Retourkutsche die Abwahl von Christoph Blocher 2007 zur Folge hatte. Ruhe kehrte erst 2015 mit dem zweiten SVP-Bundesratssitz ein. Ich gewinne den Eindruck, dass die politische Elite zurzeit Angst vor Experimenten hat. Sollte aber die FDP deutlich hinter die Mitte zurückfallen, beginnt beim nächsten Rücktritt eines freisinnigen Bundesrats ein neuer Streitzyklus. Vielleicht erinnert sich die Mitte dann daran, dass ihre Bundesrätin 2003 mit der Unterstützung der FDP abgewählt wurde.
SVP, FDP und SP sagen, die drei wählerstärksten Parteien sollen zwei Bundesratssitze erhalten, die viertgrösste einen. Ist diese Definition der Zauberformel richtig?
1955 lag die CVP nur 0,1 Wählerprozente hinter der FDP. Diese kam auf 23,3 Prozent. Die CVP hatte aber 59 Fraktionssitze und lag vor der FDP mit 57. CVP-Generalsekretär Martin Rosenberg, Erfinder der Zauberformel, argumentierte deshalb mit der Fraktionsstärke für die neue Regierungsformel von 1959: 2 Sitze für FDP (zuvor 3), 2 für CVP und SP (SP zuvor einen) und einen Sitz für die BGB/SVP. Das Narrativ für die Begründung der Formel änderte sich in den 1990er Jahren.
Mit dem Aufstieg der SVP?
Genau. Ende der 1990er Jahre kam es mit dem Aufstieg der SVP zur stärksten Partei zur Erschütterung der bisherigen Proporzformel. Blocher kämpfte nun mit dem Argument der Wählerstärke für einen zweiten Bundesratssitz. Er baute auf dieses Narrativ, weil die SVP im Ständerat nur sehr schwach vertreten war. Bundesratswahlen sind in Krisenzeit immer Machtpolitik. Die FDP übernahm die Argumentation der SVP. In den Medien passte sich das Narrativ den Siegern an.
Wie soll eine neue Zauberformel aussehen?
Man muss eine Kombination finden zwischen Fraktionsstärke und Wählerstärke. Entscheidend in Kampfwahlen in Parlamenten der westlichen Demokratien ist die Fraktionsstärke. Warum soll diese Arithmetik nicht auch in der Schweiz mit ihrem Zweikammersystem gelten? Denken Sie an die USA, an Deutschland oder neulich an Spanien. Die Bundesverfassung besagt, dass die Bundesversammlung den Bundesrat wählt - und nicht das Volk.
Wie werden sich die Grünen schlagen?
2019 war eine historische Wahl für die Grünen und für die Frauen. Ein Rekordergebnis. Dahinter stand der Klimawandel, der den Menschen bewusst wurde und den Wahlausgang beeinflusste. Seither leben wir damit. Wir haben uns sogar daran gewöhnt, dass heisse Sommer schön sein können. Was aber noch nicht ins Bewusstsein der Menschen eingedrungen ist: Das Klima wird wirklich zerstört. Heute streiten wir über Solarpanels und die Höhe von Staudämmen. Das Thema Klima hat sich veralltäglicht. Das schadet den Grünen. Für Grüne folgt der graue Alltag. Der ist nicht immer sonnig.
Wie sehen Sie die Chancen der SP?
Die SP verlor 2019 zwei Prozent. Sie wird wohl in dieser Grössenordnung zulegen. Sie profitiert von wirtschaftlichen Themen wie Teuerung und Krankenkassen.
Bleibt die GLP.
Ich sehe die GLP als Zeitgeistpartei. Dennoch wird sie vermutlich ihren Höhenflug nicht fortsetzen können. Allerdings kommt es zu keinem Absturz.
Ist der Rücktritt von Bundeskanzler Walter Thurnherr ein Glücksfall?
Der Bundeskanzler ist als Stabsorgan des Bundesrats eine politische, ja magistrale Institution, was man nicht genug betonen muss. In der Geschichte wurden Bundeskanzlerwahlen dann spannend, wenn die Bundesratswahlen politische Richtungswahlen waren.
Zwei Parteien könnten den Bundeskanzler beanspruchen: SVP und Grüne.
Seit der Einführung der Zauberformel von 1959, die eine Art Proporzregierung ist, haben wir drei freisinnige Bundeskanzler, drei Christdemokraten, einen Sozialdemokraten und bisher keinen SVPler.
Die SVP müsste den Bundeskanzler erhalten?
Vom Proporz her gesehen Ja. Die Frage ist aber: Hat die SVP den oder die fähige Public Managerin mit Verwaltungs- und Parlamentserfahrung? Das Anforderungsprofil für den Stabschef des Bundesrats ist hoch. Und: Gibt man der grössten Partei im Land auch noch den Bundeskanzler?
Die Grünen sagten, sie möchten nicht den Bundeskanzler als Trostpreis.
Ich war erstaunt über diese Aussage. Haben die Grünen überhaupt eine Bundesratsstrategie? Welchen Bundesratssitz wollen sie? Geht man von den politischen Lagern aus, müsste es der SP-Sitz sein. Das getrauen sie sich aber nicht offen zu sagen, weil sie Wählende vergraulen. (aargauerzeitung.ch)
Aber ich hoffe immer noch, dass die SVP zurück gebunden wird
Die Schweiz hat was besseres verdient, als diese destruktive Nein sager Partei.