Mit ernstem Blick schaut Flavien Gousset in die Kamera. In der Hand hält er einen Flyer. Auf diesem steht: «Geh nicht wählen.»
Das Bild hat er auf der Plattform X (früher Twitter) veröffentlicht. Als Überschrift schreibt er: «Niemand redet darüber, viele wissen Bescheid: Auch Demobilisierung gehört zum Wahlkampf. Letzter Kontrollblick bevor 100'000 Flyer für SVP-Hochburgen in den Druck gehen.»
Niemand redet darüber, viele wissen Bescheid: Auch Demobilisierung gehört zum Wahlkampf. Letzter Kontrollblick bevor 100'000 Flyer für SVP-Hochburgen in den Druck gehen. #svp #gehnichtwählen #sorrynotsorry pic.twitter.com/nDHMvACph6
— Flavien Gousset (@FlavienGousset) September 19, 2023
Gousset ist SP-Politiker aus dem Kanton Zürich. Im Herbst will er in den Nationalrat. Mit Politvideos hat sich Gousset auf Social Media einen Namen gemacht. Auf Instagram folgen dem Zürcher über 20'000 Personen, auf X mehrere Tausend. Trotz der beachtlichen Fanbasis dürfte es schwierig werden mit der Wahl. Auf der Liste der SP Zürich rangiert er erst auf Platz 15.
Liest man die Reaktionen auf X, so dürfte er seine Chancen auf einen Platz im Nationalrat noch einmal verschlechtert haben. Der Post mit dem Demobilisierungs-Aufruf kommt bei den Usern schlecht an.
«Das ist sinnlose Ressourcenverschwendung», schreibt ein User. Ein anderer meint: «Anstatt eigene gute Positionen anzubieten, müssen Linke jetzt auf eine möglichst geringe Wahlbeteiligung hoffen und demobilisieren. Zeugt nicht gerade von Selbstbewusstsein.»
Der Polit-Analyst Mark Balsiger schreibt auf X: «Einzelne Segmente des gegnerischen Elektorats zu demobilisieren, wird z.B. in den USA mit Perfidie betrieben. Was der Jung-Campaigner hier versucht, ist an Plumpheit nicht zu übertreffen. Ein merkwürdiges Demokratieverständnis.»
Doch wird der SP-Politiker jetzt tatsächlich in die SVP-Hochburgen fahren und die Leute vom Wählen abhalten? «Nein, natürlich nicht», sagt Gousset gegenüber watson am Telefon. «Das war eine Trolling-Aktion und fast alle sind darauf hereingefallen.» Wer sein Engagement verfolge, der wisse, dass er genau das Gegenteil erreichen wolle.
Gousset: «Eine Demobilisierungskampagne würde absolut nicht zu mir passen. Ich habe in den letzten vier Jahren einen grossen Teil meiner Freizeit verwendet, um junge Menschen auf den sozialen Medien für Politik zu begeistern.» Momentan toure er mit einem politischen Pubquiz durch den Kanton, um die jungen Leute zu mobilisieren.
Weshalb dann der Flyer? Gousset sagt: «Der ‹Geh-nicht-wählen-Flyer› hat natürlich noch eine Rückseite.» Dort wird der Satz jeweils zu Ende geführt. Zum Beispiel: «Geh nicht wählen, wenn du gerne Steuern zahlst, um Grossbanken zu retten.»
Gousset will den Flyer in den nächsten Tagen in den Zürcher Briefkästen verteilen. Er ist zuversichtlich, dass er damit auch Menschen erreichen kann, die «Politwerbung sonst sofort ins Altpapier werfen».
Von der Trolling-Aktion hält Mark Balsiger nichts. «Sie ist infantil», sagt er gegenüber watson. «Demokratie ist kein Flipperkasten. Vermutlich ist sich der Campaigner seiner Rolle nicht bewusst. Wenn man die Leute in die Irre führt, ist das heikel.»
«Natürlich soll der Wahlkampf nicht immer ernst sein», so der Polit-Analyst. «Aber in Zeiten von Fake News und Künstlicher Intelligenz führen solche Aktionen zu noch mehr Verunsicherung.»