22 Prozent der Menschen, die in der Schweiz leben, haben eine Behinderung. Die Inklusion dieser Menschen, sei es im öffentlichen Leben, auf dem Arbeitsmarkt oder im Parlament, ist unbefriedigend. Deshalb wurde die Schweiz von einem UNO-Ausschuss gerügt. Einer möchte das jetzt ändern: Islam Alijaj.
Islam Alijaj ist 36 Jahre alt, zweifacher Vater und lebt mit seiner Familie in Zürich. Er hat sein Lebensziel klar vor Augen: eine «Behindertenrevolution». Die Forderung kommt nicht von ungefähr – Alijaj hat eine Cerebralparese. Diese resultierte aus Sauerstoffmangel bei der Geburt. Deshalb sitzt er im Rollstuhl und hat eine Sprechbehinderung. Kognitiv beeinträchtigt ihn die Cerebralparese aber nicht.
watson trifft ihn in einem Café zum Gespräch. Alijaj lächelt sympathisch. Von den Angestellten wird er freundlich empfangen, man kennt ihn. Während des Interviews gibt es viele Momente, in denen wir zusammen lachen. Denn er ist humorvoll und selbstironisch – auch seiner Behinderung gegenüber. Deshalb hat er sich anfänglich sarkastisch «Handicap-Lobbyist» genannt. Viele Leute hätten den Sarkasmus aber nicht verstanden, deswegen nennt er sich heute Behindertenrechtsaktivist.
Der «Lobbyist» erklärt nach dem anfänglichen Plaudern, wie er sich die «Behindertenrevolution» vorstellt: «Bei der Frauenbewegung und der LGBTQ-Bewegung waren es die Menschen, die selbst betroffen sind, welche politische Veränderungen und Revolutionen vorangetrieben haben. Nur bei den Menschen mit Behinderungen ist das anders. Menschen ohne Behinderungen hocken bei den grossen Institutionen und Sozialfirmen in Kaderpositionen und denken, dass sie besser wissen, was für uns gut ist, als wir selbst.»
Alijaj möchte, getrieben von seinem starken Veränderungswillen, in den Nationalrat, weil dort Behindertenpolitik gemacht wird: «So kann ich die tatsächliche Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen tatkräftig vorantreiben.»
Im Februar 2022 konnte er bereits seinen ersten grossen politischen Erfolg verbuchen. Trotz des 9. Listenplatzes wurde er in den Zürcher Gemeinderat gewählt. «Das war ein grosser Triumph für uns Menschen mit Behinderungen und zeigt mir, dass wir auf dem richtigen Weg sind», sagt er.
Im Gemeinderat hat schon eine starke Sensibilisierung stattgefunden: «Ich bin in der Schulkommission. Meine erste Frage, wenn ein neues Schulhaus gebaut wird, ist, ob es barrierefrei ist. Vergangene Woche hat meine Kollegin aus der FDP diese Frage gestellt, nicht ich.»
Alijaj will kein Mitleid. Davon habe er sein ganzes Leben lang genug bekommen. Seine Biografie sei geprägt von verschiedenen Menschen und Institutionen, die ihn ständig bevormundet hätten: «Das war wahrscheinlich nie schlecht gemeint. Aufgrund der vermeintlichen Fürsorge bin ich immer kleiner gemacht und gehalten worden, als ich eigentlich bin.»
Alijaj wollte nie in die Sonderschule – aber damals gab es keine Alternativen. Er wollte auch seine KV-Lehre nicht im geschützten Bereich machen – aber auch hier gab es wenige bis keine anderen Optionen.
Nach der Lehre wollte er die Berufsmatura absolvieren und studieren. Die Noten dafür hätte er gehabt. Doch seine Lehrfirma und die IV rieten ihm davon ab. Ein weiterer Schlag für den ambitionierten Alijaj. Nach diesem Schlüsselerlebnis begann er, sich aktiver zu wehren, und kämpfte dafür, dass er endlich am «normalen» Arbeitsmarkt teilhaben kann.
Heute sitzt er im Zürcher Gemeinderat, kann dort aktiv seinen Beitrag leisten und wird von seinen Kolleginnen und Kollegen geschätzt. Aufgrund seiner Sprechbehinderung hat er eine Assistentin, die seine Sätze ausformuliert. An diese hätten sich aber mittlerweile alle gewöhnt.
Davor habe er in einem «goldenen Käfig» gesessen: «Es gibt zwei Arbeitsmärkte in der Schweiz. Auf dem einen verdient man seine Altersvorsorge. Und auf dem anderen wird man sein Leben lang ‹nur› beschäftigt. Ich möchte, dass es selbstverständlich wird, dass Menschen mit Behinderungen im ersten Arbeitsmarkt arbeiten und so auch eine Altersvorsorge erhalten.» Deshalb ist für ihn klar: «Wir werden die tatsächliche Gleichstellung nie erreichen in der Schweiz, wenn Menschen mit Behinderungen systematisch vom öffentlichen Leben und Arbeitsmarkt ausgegrenzt werden.»
Alijaj möchte die Bevölkerung darüber aufklären, wie es vielen der Menschen mit Behinderungen in der Schweiz wirklich geht. Die Projizierung von aussen stört ihn: «Ich habe es satt, dass Politiker und Politikerinnen ohne Behinderungen primär für die grossen Institutionen und Sozialfirmen neue Gesetzesvorlagen entwerfen und uns Selbstbetroffene nicht einbeziehen.»
Alijaj ist im Gespräch auch selbstreflektiert und spiegelt verschiedene Meinungen: «Mir wird oft vorgeworfen, dass ich das alles nur aus Eigeninteresse machen würde. Ich mache das nicht nur für mich. Viele Menschen, mit denen ich im Austausch bin, machen die gleichen Erfahrungen wie ich. Und für sie setze ich mich ein.»
Man solle wegkommen von dem Gedanken, dass Menschen mit Behinderungen nur in Heimen wohnen würden, denn so seien sie im öffentlichen Leben praktisch unsichtbar: «Das Heimwesen muss grundlegend überdacht werden. Viele Betroffene wünschen sich, dass die staatlichen Gelder in persönliche Assistenzpersonen investiert werden und weniger in die Heime und Institutionen. Aber diese Menschen werden oft trotzdem in Heimen und auf geschützten Arbeitsplätzen untergebracht. Man müsste dringend neue Lösungen suchen.»
Trotz all der Probleme und Missstände bleibt Alijaj optimistisch, denn am 24. März findet die erste Behindertensession im Bundeshaus statt, darauf freut er sich.
Während der Behindertensession werden 44 von 200 Nationalratssitze besetzt – dies entspricht dem Anteil an Menschen mit Behinderung in der Schweizer Bevölkerung. Alijaj weiss noch nicht, ob er an der Session teilnehmen darf, denn er und die anderen Kandidierenden müssen zuerst auf der Proinfirmis-Website gewählt werden. Über 200 Menschen haben sich schon angemeldet und wollen mitdiskutieren. Das verdeutlicht: Islam Alijaj ist nicht der einzige Mensch mit Behinderung, der sich mehr politische Teilhabe wünscht.
Auf der Pro Infirmis Liste, kann ich jedoch nur Namen ohne weitere Infos wählen.
Das geht für mich gar nicht. Das wäre wie, eine Liste mit Namen von Schwarzhaarigen, die man wählen kann.
Nein, mache ich nicht. Nur weil jemand einer Minderheit angehört, heisst das doch nicht: wählbar.
Wofür/Wogegen sich Menschen engagieren (und warum) ist für mich ausschlaggebend.
Da ging ich zu der Frau und fragte sie, ob sie alleine aufstehen könne. Das verneinte sie. Da fragte ich sie: Wie kann ich ihnen dabei helfen? Sie erklärte mir, welche Art Hilfe sie benötige. So ging das sehr gut.
Dann sagte sie mir, dass sie ab und zu hinfalle und sagte mir, wenn das alle so machen würden wie ich, wäre das so schön.