Schweiz
Wahlkampf

Wahlen 2023: Marius Diserens ist queer – und will in den Nationalrat

«Manchmal habe ich Angst»: Marius Diserens queerer Nationalratskandidat, erlebt Hass und Drohungen.
«Manchmal habe ich Angst»: Marius Diserens, queerer Nationalratskandidat, erlebt Hass und Drohungen.Bild: Dlovan Shaheri / CH Media

«Es ist eigentlich ganz einfach: Ich möchte mit demselben Respekt behandelt werden»

Marius Diserens könnte das Klischee-Feindbild der Rechten sein: Er ist queer, hat einen Master in Gender Studies, trägt hohe Absätze und Dreitagebart und macht Kommunalpolitik für die Grünen. Aber in eine Schublade passt er nicht.
17.10.2023, 18:0317.10.2023, 18:34
Christoph Bernet / ch media
Mehr «Schweiz»

Marius Diserens fällt auf, wohin er geht. Die langen dunklen Haare stets perfekt frisiert, dezent, aber sichtbar geschminkt, ein dunkler Dreitagebart, die Lippen rot, die Schuhe oft mit hohen Absätzen. Diserens sagt: «Auch wer mich nicht mag, sagt mir: Du bist sehr gut angezogen.»

Marius Diserens ist 27 Jahre alt und kandidiert für den die Waadtländer Grünen für den Nationalrat. Er ist queer. Im Körper eines Mannes geboren, ordnet er sich beim sozialen Geschlecht (englisch: Gender) weder der männlichen noch der weiblichen Ausprägung zu. Dass in diesem Text als Platzhalter für Diserens dennoch das Personalpronomen «er» steht, ist für ihn kein Problem. Diserens sagt: «Pronomen interessieren mich nicht.»

Es ist der erste, aber längst nicht der einzige Moment in einem langen Gespräch, in dem Marius Diserens jene diffusen Erwartungen unterläuft, mit denen eine Begegnung mit ihm verbunden sind. Er widersteht, so wächst der Eindruck während des Treffens, allen Schubladisierungen.

Schaute man sich nur die Eckdaten von Diserens' Biografie an, so liesse sich in den Schwarz-Weiss-Tönen der Gender-Debatte rasch die holzschnittartige Kontur eines woken Aktivisten umreissen. Er ist Mitglied bei den Grünen, hat einen Master in Gender Studies, unterrichtet Yoga, berät Firmen und Organisationen in Genderfragen, ist Projektverantwortlicher für Gender und Medizin an der Unisanté in Lausanne. Auf Instagram folgen ihm über 10'000 Menschen.

«Wer aussieht wie ich, stellt alles infrage»: Marius Diserens, non-binärer Nationalratskandidat der Grünen.
«Wer aussieht wie ich, stellt alles infrage»: Marius Diserens, non-binärer Nationalratskandidat der Grünen.bild: Dlovan Shaheri / CH Media

Er könnte, anders ausgedrückt, als Schablone für das perfekte Feindbild jener Kräfte dienen - darunter mit der SVP die grösste Partei des Landes - die landauf, landab «Woke-Wahnsinn» und «Gender-Gaga» wittern und die traditionellen Werte in Gefahr sehen. Es ist eine Debatte, die lärmig, ruppig, aggressiv geführt wird. Marius Diserens ist das Gegenteil: Er ist höflich, zurückhaltend, reflektiert.

Und sein Äusseres, das stellt er klar, kein politisches Statement im Rahmen dieser Debatte. Es sei schlicht und einfach Ausdruck seiner Persönlichkeit. Diese Persönlichkeit sei bei ihm æ wie bei allen anderen Menschen auch - das Ergebnis «einer individuellen Reise», die nie an ein Ende kommt.

«Ich bin mit mir im Reinen»

Diserens' eigene Reise, um beim Bild zu bleiben, begann in den Nullerjahren. In einem Porträt aus dem Jahr 2022 in der Westschweizer Zeitung «Le Temps», das wie andere journalistische Annäherungsversuche an Diserens in Klischees und Exotismus behaftet bleibt, heisst es: «Der Junge aus Nyon hängt zu viel mit den Mädchen ab, spielt zu viel mit Barbies und ist zu manieriert, als dass man ihn in Ruhe lassen könnte.» Ihm seien von Mitschülern Kategorien umgehängt worden- metrosexuell, bisexuell - über die er sich zu diesem Zeitpunkt noch nie Gedanken gemacht hatte.

Das erste Outing gegenüber seiner Familie, dass er Männer bevorzugt, erfolgt im Alter von 20 Jahren. Später realisiert er, dass er queer ist, seine Geschlechterzugehörigkeit als fluid empfindet. Während des Studiums lernt er Blusen, Damenanzüge und Schuhe mit hohen Absätzen als Teil seiner Garderobe zu schätzen.

Marius Diserens sagt: «Ich glaube, wir alle entwickeln uns immer weiter.» Aktuell fühle er sich sehr wohl:

«Ich weiss heute, wer ich bin. Und ich bin im Reinen mit mir.»

«Wer aussieht wie ich, stellt alles infrage»

Doch viele Menschen, die Marius Diserens nicht kennen, haben Mühe damit, wer er ist. Oder präziser: Mit dem, was sie in ihm sehen. Diserens schlägt viel Hass entgegen. Online, wo er Beschimpfungen und Bedrohungen in Form von zahllosen Hassnachrichten erlebt. Und auf der Strasse, wo er nicht nur schiefe Blicke auf sich zieht, sondern auch mal als «Schwuchtel» beschimpft und mit Gewalt bedroht wird.

Für Marius Diserens, man merkt es im Gespräch, sind der Hass und die Gewalt, mit denen er fast täglich konfrontiert ist, zur Routine geworden. Das sei auch eine Bewältigungsstrategie: «Alle, die häufig Gewalt erleben, normalisieren diese Gewalt ein Stück weit.» Und dennoch: «Manchmal habe ich Angst», gesteht Diserens. Er habe lernen müssen, diese Angst zuzulassen und mit ihr umgehen zu können.

Was ihm hilft, ist ein kleines Netzwerk von engen Freundinnen und Freunden. «Das sind Leute, die mich sehr gut kennen, die ich zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen kann und die genau wissen, wie ich funktioniere und was ich brauche.»

Nach seiner Erklärung für den Hass gefragt, mit dem er konfrontiert ist, überlegt Diserens erst lange. Dann formuliert er ruhig und ohne Werturteil in der Stimme. Die Geschlechternormen, die Vorstellungen darüber, wie ein Mann zu sein hat und wie eine Frau zu sein hat, seien gesellschaftlich sehr wirkmächtig. Sie würden vieles vorgeben, seien dominante Werte. Wer aussehe wie er, stelle all das infrage – aus der Sicht jener, die von ihm irritiert seien. «Da kommt jemand daher und hält sich nicht an das, was man für unverrückbar hält», formuliert es Diserens.

Sein Auftreten signalisiere, dass er nicht bereit sei, seine Persönlichkeit zu verstecken – weil es dafür keinen Grund gebe. «Ich lasse den Leuten nicht den Raum, so zu tun, als gebe es mich oder andere Menschen wie mich nicht», sagt Diserens.

«Offen so zu leben, wie ich lebe, bedeutet jeden Tag kämpfen», sagt Marius Diserens.
«Offen so zu leben, wie ich lebe, bedeutet jeden Tag kämpfen», sagt Marius Diserens.Bild: Dlovan Shaheri / CH Media

Was ihn im gesellschaftlichen und besonders im medialen Diskurs stört:

«Menschen ausserhalb der traditionellen Geschlechteridentitäten werden als äusserst sensible, sofort beleidigte Wesen dargestellt, die irgendwelche Privilegien für sich verlangen.»

Das sei schlicht falsch. Das wichtigste Anliegen der Gemeinschaft sei es, als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft anerkannt zu werden. «Es ist eigentlich ganz einfach: Ich möchte mit demselben Respekt behandelt werden, den ich anderen Leuten entgegenbringe.» Davon sei man in unserer Gesellschaft weit entfernt. Er ist mit sich im Reinen. Aber offen so zu leben, wie er lebe, «bedeutet jeden Tag zu kämpfen.»

«Ein Aktivist und ein solider Schaffer»

Sein täglicher Kampf hat Diserens weder ermüdet noch verbittert. Es ist nicht einmal der primäre Grund für seinen Einstieg in die Politik. Zu den Grünen sei er gestossen, weil für ihn, der sich als «Ökofeminist» bezeichnet, «der Einsatz für eine intakte Umwelt und eine gerechte Gesellschaft» untrennbar miteinander verbunden sind. Er entstammt einer politischen Familie, hatte schon als Kind «eine aktivistische Ader». Grossvater und Grossmutter («mein feministisches Vorbild») sassen beide für die SP im Stadtparlament von Nyon.

Dort ist auch Diserens seit den letzten Wahlen 2021 Mitglied. Er ist Vizepräsident der Finanzkommission, sitzt in der Kulturkommission, in der interkommunalen Polizeikommission. Wer sich in Nyons Lokalpolitik umhört, der erhält fraktionsübergreifend die Rückmeldung: Marius Diserens komme gut vorbereitet an die Sitzungen, arbeite sich in seine Dossiers ein, sei höflich und umgänglich.

Roxane Faraut (FDP), in der Stadtregierung für Sicherheit und Infrastruktur zuständig, sagt: «Marius ist gleichzeitig Aktivist und ein solider Schaffer mit grossem Respekt vor den demokratischen Institutionen.» Auch wenn er nun bereits nach zwei Jahren den Sprung in die nationale Politik versucht, habe sie nie den Eindruck gehabt, er würde die Kommunalpolitik nur als Sprungbrett für Grösseres betrachten: «Er nimmt seine Aufgabe in Nyon sehr ernst».

Jetzt strebt Diserens nach Bern. Die Delegierten der Waadtländer Grünen, (aktuell: vier Sitze im Nationalrat) haben ihn mit grosser Mehrheit auf Platz 6 der Nationalratsliste gesetzt, vor manches politische Schwergewicht.

Diserens nimmt den guten Listenplatz als Antrieb für einen engagierten Wahlkampf. Auf Instagram, wo er Bundesräte und Parteipräsidenten punkto Reichweite in den Schatten stellt, ebenso wie im direkten Kontakt mit den Leuten auf dem Wochenmarkt, am Bahnhof, auf der Strasse.

«Das Gewand der Macht ist ein Männeranzug»

Im Wahlkampf ist Diserens potenzieller Konkurrent von Nationalrätin Valentine Python, die als Bisherige von Platz 4 aus antritt. Seit Anfang Jahr unterstützt Diserens Pythons Arbeit im Parlament als persönlicher Mitarbeiter, vor allem im Kommunikationsbereich. Python nimmt diese spezielle Ausgangslage locker, schliesslich kämpften beide für die gleichen Werte und die gleiche Partei: «Und Marius geht sehr professionell mit dieser Konkurrenzsituation um.»

Für seine Arbeit für Nationalrätin Python ist Marius Diserens regelmässig im Bundeshaus. Die schrägen Blicke, die er in der Wandelhalle auf sich gezogen hat – auf der rechten Ratsseite mehr als auf der linken – seien weniger geworden. «Man hat sich im Bundeshaus an mich gewöhnt», sagt Diserens.

«L'habit du pouvoir», das Gewand der Macht, sagt Diserens, sei in der Schweiz immer noch ein schwarzer oder dunkelblauer Männeranzug. Ein Nationalrat Marius Diserens, dieses ruhige Gesicht einer lauten Debatte, würde dem Gewand der Macht einen neuen Farbton hinzufügen. Und niemand wird behaupten können, er sei schlecht angezogen. (aargauerzeitung.ch)

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Mögliche Bundesratsnachfolge für Alain Berset
1 / 8
Diese SPler wollen für Alain Berset in den Bundesrat
Evi Allemann, Berner Regierungsrätin, kandidiert bereits das zweite Mal. Sie wollte bereits 2022 als Nachfolgerin von Simonetta Sommaruga kandidieren, landete jedoch nicht auf dem Wahlvorschlag der SP. Allemann erreichte den dritten Platz und wurde nicht nominiert. Die ausgebildete Juristin hat zwei Kinder.
quelle: keystone / peter klaunzer
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Wahlenbot mit Samira Marti
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
Hast du technische Probleme?
Wir sind nur eine E-Mail entfernt. Schreib uns dein Problem einfach auf support@watson.ch und wir melden uns schnellstmöglich bei dir.
195 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Skunk42
17.10.2023 18:12registriert Februar 2022
Ein Absatz über seine Politik und gefühlt 17 über sein Aussehen.
44715
Melden
Zum Kommentar
avatar
Roegerl
17.10.2023 18:35registriert Juni 2022
Was für Ideen hat er, was für Fähigkeiten..?
Ist doch egal wie jemand aussieht oder auf was er steht..?
35214
Melden
Zum Kommentar
avatar
Wespenstich
17.10.2023 18:36registriert August 2022
Anstatt einfach einen Artikel der Aargauerzeitung zu kopieren, hätte man sich auch etwas tiefer und detaillierter mit den politischen Positionen von Herrn Diserens auseinandersetzen können. Dann wäre vielleicht auch was Relevantes dabei rumgekommen. So ist es nur ein bünzliges Gelaber darüber ob ein schicker Typ mit langen Haaren wohl brauchbar ist, und wie andere Leute denn auf ihn reagieren. Oooooh ein Grüner der "Öko-Feminist" ist und Genderstudies studiert hat, na DEN müssen wir natürlich sofort auf das Feinbild der Rechten reduzieren, hahah und schminken tut er sich auch! Hach wie ulkig!
32424
Melden
Zum Kommentar
195
Ein Ja ist mehr als ein Nein: Darum ist das AHV-Urteil richtig
Das Bundesgericht hat die Beschwerden gegen die AHV-Abstimmung abgewiesen. Das Urteil mag die Frauen ärgern, doch eine Annullierung hätte zu einem Chaos geführt.

Gross war der Ärger vieler Frauen über das Ja zur AHV 21 vor zwei Jahren. Das Ergebnis war äusserst knapp (50,5 Prozent), und eine Mehrheit hatte gegen die Anhebung ihres Rentenalters von 64 auf 65 Jahre gestimmt. Gross war deshalb die Hoffnung, als im August bekannt wurde, dass die Finanzlage der AHV positiver ist als damals behauptet.

Zur Story