Ihr Dorf ist weg. Ihre Häuser liegen begraben unter einer meterhohen Schicht aus Eis und Geröll. Oder sind überschwemmt von den Wassermassen des Sees, zu dem sich der Fluss Lonza nach dem Bergsturz aufgestaut hat.
Für die Blattnerinnen und Blattner kommt zur Trauer um die zerstörte Heimat Unsicherheit hinzu. Unsicherheit darüber, wo sie dereinst ein neues Zuhause finden werden.
Die Mehrheit der rund 300 Einwohnerinnen und Einwohner des Dorfes ist zwischenzeitlich in den anderen Dörfern des Lötschentals untergekommen: bei Verwandten, Freunden oder in temporär zur Verfügung gestellten Zweitwohnungen.
Die Arrangements sind sehr unterschiedlich: Einige haben eine mehrjährige Unterkunft, die ihrem Platzbedarf entspricht. Andere haben nur für die nächsten paar Monate ein temporäres Dach über dem Kopf gefunden.
«Die Wohnsituation ist aktuell ein Problemfeld, das nicht zufriedenstellend gelöst ist», räumt Matthias Bellwald ein, der Gemeindepräsident von Blatten. Man tue alles dafür, den Betroffenen mit greifbaren und tragfähigen Lösungen zu helfen.
Die übers Lötschental verstreute Bevölkerung von Blatten tauscht sich per Whatsapp-Gruppenchat aus. Oft verabredet man sich spontan auf einen Kaffee oder ein Bier.
Dabei treibt ein Thema die Leute besonders um: die Auszahlung der Versicherungssumme für jene, die ihr Heim verloren haben. «Das ist ein riesiges Thema bei den Leuten aus dem Dorf», sagt etwa Lilian Ritler, Leiterin Marketing bei Lötschental Tourismus.
Die 38-Jährige und ihr Partner haben erst vor einem Jahr eine Wohnung in Blatten gekauft. Diese ist, wie 95 Prozent der Gebäude im Dorf Blatten, beim Bergsturz zerstört worden. Der Schweizerische Versicherungsverband (SVV) schätzt die versicherten Schäden infolge des Bergsturzes auf 320 Millionen Franken, wovon 260 Millionen Franken auf Gebäude und Hausrat entfallen.
Die Privatversicherer seien bemüht, den Betroffenen in Blatten «pragmatisch und unbürokratisch beizustehen», schrieb der Verband Ende Juni in einer Mitteilung. Doch viele Betroffene haben den Austausch mit den Versicherungen als belastend empfunden, sagt Lilian Ritler. Kurz nach der Katastrophe rollte bereits die Versicherungsbürokratie an.
In einem Fall habe eine Versicherung bereits drei Tage nach dem Bergsturz eine fotografische Dokumentation der Schäden eingefordert. Zu einem Zeitpunkt, an dem ein Betreten des Schuttkegels undenkbar war und selbst die Behörden nur vereinzelte Drohnenflüge durchführen konnten.
Am meisten zu reden gibt in der Dorfbevölkerung eine Regelung, auf die sich die Elementarschadenkommission des Versicherungsverbands geeinigt hat. Die Versicherungen zahlen nur 75 Prozent der Versicherungssumme gemäss Police als Akonto-Zahlung aus – abzüglich des Selbstbehalts. Dieser Betrag könne beispielsweise zur Begleichung einer Hypothek verwendet werden, schreibt der Verband.
Die restlichen 25 Prozent – was oft grosso modo dem eingebrachten Eigenkapital entsprechen dürfte – werden nur dann ausbezahlt, wenn innert fünf Jahren im Kanton Wallis eine Immobilie mit dem gleichen Zweck neu gebaut oder gekauft wird.
Damit weichen die Versicherer von der üblichen Bedingung eines Wiederaufbaus innerhalb von zwei Jahren und am selben Ort ab, rühmt der SVV in seiner Medienmitteilung: «Dies soll den betroffenen Versicherten Zeit geben, Behördenentscheide zum Wiederaufbau von Blatten abzuwarten und ihre Situation individuell abzuwägen.»
Doch auch die verlängerte Frist löst bei der Dorfbevölkerung Ängste aus. «Die Zukunft von Blatten ist mit so viel Unsicherheit behaftet, da sind fünf Jahre sehr kurz», sagt Lilian Ritler.
Viele stünden vor einer schwierigen Wahl: Hofft man darauf, dass der Zeitplan für das neue Blatten eingehalten werden kann – und verliert, wenn es länger dauert, 25 Prozent der Versicherungssumme? «Das ist viel Geld, ohne das sich die meisten kein neues Zuhause leisten können», sagt Ritler.
Oder entscheiden sie sich für ein neues Leben an einem anderen Ort, damit sie sicher die ganze Versicherungssumme erhalten – obwohl sie gerne wieder nach Blatten zurückkehren würden?
«Natürlich sind wir uns dieser Gefahr, diesen Ängsten und Zweifeln sehr bewusst», sagt Gemeindepräsident Matthias Bellwald. «Wir setzen uns alle zusammen für Lösungen ein.» Die Betroffenen sollen neben dem Verarbeiten des Geschehenen nicht auch noch mit Zukunftsängsten belastet werden.
Bellwald verbreitet Optimismus. Die Vision Blatten 2030 für den Wiederaufbau des zerstörten Dorfes umfasse zurückgerechnet genau die Frist von fünf Jahren bei der Versicherungsleistung: «Der Fahrplan ist dadurch gegeben. Es ist ein sehr straffer Fahrplan, aber er ist realistisch und machbar.»
Auf Anfrage verweist auch Lisa Schaller, Sprecherin des Schweizerischen Versicherungsverbands, auf den von Gemeindepräsident Bellwald präsentierten Zeitplan. In der aktuellen Lage gebe es aber noch diverse Unklarheiten, welche die Planung erschwerten. Die Versicherer stehen in engem Austausch mit dem Krisenstab im Lötschental.
Schaller macht der verunsicherten Blattner Bevölkerung Hoffnung, dass die Fünfjahresfrist noch nicht endgültig ist: «Sobald behördliche Entscheide vorliegen und die Rahmenbedingungen für einen möglichen Wiederaufbau absehbar werden, wird sich die Elementarschadenkommission nochmals mit der Frage der Frist befassen und die Lage neu beurteilen.» (aargauerzeitung.ch)