Der Bundespräsident zeichnete ein rosiges Bild. Die Neutralität der Schweiz sei am Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos «gut verstanden worden», behauptete Alain Berset am Donnerstag vor den Medien. Und wiederholte eine im letzten Jahr häufig gehörte Floskel: Er habe seinen Gesprächspartnern erklärt, dass Neutralität nicht Gleichgültigkeit bedeute.
Berset ist kein Brillenträger, aber offenbar hatte er bei seinen Treffen mit europäischen Politikern rosarote Gläser aufgesetzt. Denn das Verständnis für die Weigerung der Schweiz, anderen Ländern die Weitergabe von Waffen an die Ukraine zu ermöglichen, war in Davos sehr limitiert. Die Schweiz mache sich mitschuldig, sagte ein Spitzenpolitiker laut der NZZ.
Darauf angesprochen, spielte Alain Berset den Vorwurf herunter. Er glaube nicht, dass sich die Schweiz mitschuldig machen würde, weil sie keine Waffen liefere. Die Schweiz habe «eine sehr besondere Rolle zu spielen», und man müsse nicht alles auf den Kopf stellen. Was er mit dieser kryptischen Aussage meinte, liess der Bundespräsident offen.
Die Realität am WEF jedenfalls sah anders aus. Hinter und teilweise auch vor den Kulissen sei die Schweizer Ausfuhrblockade «ein erstaunlich grosses Thema», sagte Sebastian Ramspeck, internationaler Korrespondent des SRF, in der «Tagesschau» vom Dienstag, als das Jahrestreffen der Eliten aus Politik und Wirtschaft noch kaum richtig begonnen hatte.
Mehrere äusserten ihr Missfallen deutlich, etwa EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf dem französischen Fernsehsender LCI. Sie räumte ein, dass der Entscheid über Waffenlieferungen in Bern liege. Enthaltung und Abseitsstehen aber seien «in diesem grausamen Krieg» keine Option, sagte sie dem Schweizer LCI-Interviewer Darius Rochebin.
Kein Blatt vor den Mund hatte zuvor der deutsche Vizekanzler Robert Habeck nach seinem Treffen mit den Bundesräten Guy Parmelin und Albert Rösti genommen. Es wäre «gerecht und hilfreich, wenn die Schweiz Munition zur Verfügung stellen würde», meinte Habeck. Er bezog sich dabei auf die von Bern untersagte Lieferung von Munition für den Gepard-Panzer.
Ebenso klar äusserte sich NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg im SRF-Interview. Er rief «alle Staaten» zu militärischer Unterstützung der Ukraine gegen den Aggressor auf. Auf die Schweizer Neutralität angesprochen, sagte der Norweger: «Hier geht es nicht um Neutralität. Es geht um das Recht auf Selbstverteidigung, das in der UNO-Charta verankert ist.»
Der finnische Aussenminister Pekka Haavisto gab mehreren Schweizer Medien ein Interview. Er ist Mitglied der Grünen. Sein Land war lange neutral, will nun jedoch der NATO beitreten und der Ukraine Leopard-Panzer liefern. Er wünsche sich vor allem Solidarität mit der Ukraine, sagte Haavisto der NZZ: «Die Neutralität sollte das nicht verhindern.»
Harte Kritik gab es von ukrainischer Seite. «Wenn es um Menschenrechte geht, um Leben und Tod, um Krieg und Frieden, dann kann man nicht neutral sein», sagte Vitali Klitschko, der Bürgermeister von Kiew, dem «Blick». Er bat die Schweiz um die Lieferung «von Verteidigungswaffen, die das Leben der Menschen schützen», etwa Luftabwehrsystemen.
Die unverblümte Kritik an der Schweiz überrascht nur auf den ersten Blick. Viele europäische Politiker haben realisiert, dass Russland nicht zu ernsthaften Verhandlungen über ein Ende des Krieges bereit ist. Umso wichtiger ist es in ihren Augen, die Ukraine weiterhin aufzurüsten. Die Diskussion über Kampfpanzer passt in dieses Bild.
Die Schweiz aber hat zwei Gesuche abgelehnt. Neben der deutschen Gepard-Munition waren dänische Piranha-Radschützenpanzer betroffen. Auch die von Spanien beantragte Lieferung von Flugabwehrgeschützen an die Ukraine dürfte scheitern. Aus Schweizer Sicht verhindern zwei Punkte die Weitergabe: die Neutralität und das Kriegsmaterialgesetz.
Nun aber gibt es Bestrebungen im Parlament, das erst kürzlich verschärfte Gesetz so weit zu lockern, dass demokratische Rechtsstaaten mit Exportkontrolle Schweizer Rüstungsgüter von sich aus weitergeben können. Selbst die SVP ist dafür offen. Das sei «ein möglicher Kompromiss», sagte der Berner Ständerat Werner Salzmann der «NZZ am Sonntag».
Die Debatte dürfte aber schwierig werden, und je länger der Krieg in der Ukraine dauert und je stärker die Zivilbevölkerung leidet, umso mehr wird der Druck auf die Schweiz zunehmen. Und bereits zeichnet sich ein weiterer Konflikt mit Blick auf die Nachkriegszeit ab. Es gibt Bestrebungen, gesperrte russische Vermögenswerte für den Wiederaufbau zu verwenden.
Auch darüber wurde am WEF diskutiert, wie Aussenminister Ignazio Cassis im Interview mit Tamedia erklärte: «Es gibt schon international Druck, dass sich alle Staaten daran beteiligen, also auch wir.» Die Schweiz hat 7,5 Milliarden Franken eingefroren. Um diese zu verwenden, brauche es grössere Rechtsanpassungen und wohl einen Volksentscheid, so Cassis.
Bei diesem Thema gibt es offene Fragen und rechtsstaatliche Bedenken. Doch seit dem russischen Angriff sind manche Tabus gefallen. Deshalb möchte die Schweiz für einmal proaktiv mitmachen. Sie tut gut daran, denn in Davos hat sich gezeigt, dass die Neutralität immer weniger verstanden wird – auch wenn Alain Berset das Gegenteil behauptet.