Viele wollten es bis zuletzt nicht wahrhaben. Dabei hatte sich das Unheil angekündigt. Im letzten Herbst hatte Russland mit dem Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine begonnen. Kritische Stimmen warnten, dass Wladimir Putin dieses Mal die Invasion ins Nachbarland vorbereite. In (West-)Europa aber wollte kaum jemand auf sie hören.
Dabei hatte Putin im Sommer 2021 in einem Essay geschrieben, dass die Ukraine für ihn keine eigenständige Nation ist, sondern eine Art abtrünnige Provinz, die er «heim» ins russische Imperium holen wollte. Schon früher hatte er sich abschätzig über die Ukraine geäussert, doch im Westen nahm man dies selbst nach der Krim-Annexion 2014 nicht ernst.
Erst als die Bedrohung immer konkreter wurde, kam es zu hektischen Versuchen, einen Krieg abzuwenden. Putin aber hatte sich entschieden, und am Morgen des 24. Februar 2022, also vor genau sechs Monaten, kam es in Europa zu einem im wahrsten Sinn bösen Erwachen. Russische Truppen waren ins Nachbarland einmarschiert.
Es hilft wenig, dass das «strategische Genie» Putin sich als krasser Stümper entpuppte. Er hat die Stärke seiner Armee über- und den Willen der Ukrainer unterschätzt, ihre Freiheit und Unabhängigkeit zu verteidigen. Auch rechnete er nicht mit der Entschlossenheit des «dekadenten» Westens, die Ukrainer mit Sanktionen und Waffen zu unterstützen.
Die Rückkehr des Kriegs nach Europa hat den Kontinent aus der 30 Jahre lang gehegten Illusion einer friedlichen, regelbasierten Weltordnung gerissen. Die Hoffnung vor allem der Deutschen, Russland mit «Wandel durch Handel» einbinden zu können, platzte mit lautem Knall. Von einer «Zeitenwende» sprach Bundeskanzler Olaf Scholz.
Immer mehr zeichnet sich ab, dass die Welt auf einen neuen Kalten Krieg zusteuert. Auf einer Seite steht der demokratische Westen, auf der anderen ein autoritärer Block um China und Russland, deren Herrscher revanchistische Gefühle bewirtschaften. Mit dieser neuen «Weltordnung» tun sich viele schwer, auch und gerade die Schweiz.
Unser Land hatte es sich in der Welt nach dem Ende des Kalten Kriegs besonders bequem gemacht. Es lockte russische Rohstofffirmen wie die Nord Stream AG mit tiefen Steuern an, und es vereinbarte 2013 ein Freihandelsabkommen mit China, um das uns die halbe Welt beneide, wie Bürgerliche und Wirtschaft jubelten.
Diese Euphorie ist verflogen. Über die von der Wirtschaft gewünschte Aufdatierung des Freihandelsabkommens will Peking nicht einmal reden, weil die Schweiz die Frechheit hatte, die Menschenrechtsverletzungen zu kritisieren. Darin zeigt sich das «neue», aggressive China unter Xi Jinping, das zuletzt im Konflikt um Taiwan sein hässliches Gesicht zeigte.
Den russischen Einmarsch in die Ukraine sah in Bern ebenfalls niemand kommen. Dabei war exakt drei Monate zuvor, am 24. November 2021, der sicherheitspolitische Bericht des Bundesrats erschienen. Die Bruchlinien zwischen Europa und Russland hätten sich weiter verstärkt, heisst es darin, «was direkte Konsequenzen für die westlichen Nachbarstaaten Russlands hat, aber auch Schweizer Interessen tangieren kann».
Von einer drohenden Invasion aber war keine Rede. Eine solche konnte man sich offenbar im Verteidigungsdepartement VBS nicht vorstellen. Entsprechend kopflos reagierte die Landesregierung vor allem auf die Wucht der westlichen Sanktionen. Erst versuchte sie in gewohnter Manier, sich davor zu drücken, ohne allerdings eine klare Linie vorzugeben.
Erst nach massiver Kritik und grossem innen- und aussenpolitischem Druck kam es zur Kehrtwende. Der Bundesrat übernahm die Sanktionen der Europäischen Union, auch gegen russische Personen und Unternehmen in der Schweiz. «Even Switzerland!», staunte US-Präsident Joe Biden, was einiges über unser Image in Washington aussagt.
Die verspätete, dafür umso hastigere Reaktion ist typisch für ein Land, das sich gerne ins Schneckenhaus zurückzieht und sich regelmässig überrascht zeigt, wenn ein Sturm aus dem Ausland über uns hinwegfegt. Ein weiteres Beispiel ist die drohende Energiekrise im Winter. Sie entlarvt unsere Abhängigkeit von Europa.
Das gilt besonders für das Erdgas. Mangels eigener Speicher sind wir darauf angewiesen, dass jederzeit Gas in unser Land fliesst. Als die EU jedoch Ende Juli ein Sparziel von 15 Prozent beschloss, tat die offizielle Schweiz anfangs so, als ginge uns das nichts an. Dabei können wir keine Solidarität einfordern, ohne selber solidarisch zu sein.
Der Bundesrat wird sich hoffentlich an der Sitzung vom Mittwoch dazu durchringen, sich dem EU-Ziel anzuschliessen und eigene Sparmassnahmen vorzulegen. Auf jeden Fall muss sich Bundesbern mit den strategischen Defiziten beschäftigen, die durch die Krise aufgezeigt wurden. Das betrifft auch unser Verhältnis zur «heiligen Kuh» Neutralität.
Bundespräsident und Aussenminister Ignazio Cassis (FDP), der wenig Führungsstärke gezeigt und sich auf Nebenschauplätzen verzettelt hat (erinnert sich noch jemand an die gehypte Lugano-Konferenz?), will auf die Zeitenwende mit dem Begriff «kooperative Neutralität» reagieren. Ein zugehöriger Bericht soll schon bald veröffentlicht werden.
Den Anhängern eines dogmatischen Neutralitätsbegriffs um SVP-Doyen Christoph Blocher geht dies viel zu weit. Sie wollen ihr Verständnis einer rigorosen Neutralität mit einer Volksinitiative in der Verfassung verankern. Fürchten muss man sich davor nicht. Das Volksbegehren wirkt ähnlich aus der Zeit gefallen wie der bald 82-jährige Blocher selbst.
Erkannt hat dies Mitte-Präsident Gerhard Pfister. «Unsere pragmatische, teils opportunistische Aussenpolitik funktioniert nicht mehr», sagte der Zuger Nationalrat im Interview mit den Tamedia-Zeitungen. Die aktuelle geopolitische Entwicklung laufe «auf einen Kampf zwischen den demokratischen und den autokratischen Staaten hinaus».
Die Schweiz werde «zu Positionsbezügen gezwungen in Fragen, die wir bisher lieber diffus gehalten haben. Das funktioniert nicht mehr», lautet Pfisters Schlussfolgerung. Er warnt, wir müssten uns «auf einen Wohlstandsverlust einstellen». Oder anders gesagt: Wir können uns nicht mehr in der Nische verstecken und Handel mit «anrüchigen» Regimen treiben.
So weit, so nachvollziehbar. Schwierig allerdings wird es, wenn Gerhard Pfister postuliert, wir müssten «unser Verhältnis zur EU klären». Vor einem Jahr hatte der Bundesrat die Verhandlungen über das institutionelle Rahmenabkommen einseitig für beendet erklärt, mangels Rückhalt im Inland. Zu den Gegnern gehörte auch der Präsident der Mitte-Partei.
Nun schiebt er die Schuld den FDP-Bundesräten in die Schuhe, die 2017 den innenpolitischen Konsens der Sozialpartner «leichtsinnig» aufgekündigt hätten. Ganz falsch liegt Pfister nicht, aber leichtsinnig war vor allem die Art, wie die Schweiz das Verhältnis zum wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Partner aufs Spiel gesetzt hat.
Besserung ist nicht in Sicht. Der Bundesrat tut sich schwer mit dem Neustart der Beziehungen. In Bern wird nicht zu Unrecht spekuliert, er wolle das «toxische» Thema bis zu den Wahlen 2023 im Giftschrank einschliessen, was in Brüssel kaum goutiert werden dürfte. Eine solche Hinhalte-Taktik könnte – Stichwort Erdgas – ins Auge gehen.
Die Schweiz tut sich schwer damit, ihren Platz in der Welt nach der «Zeitenwende» des Ukraine-Kriegs zu finden. Das ist nachvollziehbar, (zu) lange war es uns gelungen, uns mit helvetischer Schlaumeierei irgendwie durchzumogeln. Die Grenzen dieser «Strategie» wurden uns schon vor dem Ukraine-Krieg aufgezeigt, etwa beim Bankgeheimnis.
Nun müssen wir endgültig definieren, wohin wir gehören wollen. Die Antwort liegt auf der Hand, dennoch wird sie noch zu einigen innenpolitischen Grabenkämpfen führen.
lustig das es immer die selbe partei ist welche diese schwurblergetue (gegen coronamassnahmen, pro putin) mitmacht!
man kann/darf bei diesem leid nicht wegsehen auch wenn die folgen davon unangenehm sein können. ärmel noch und durch!
Nö, tut sie nicht. Das würde ja bedeuten, dass sie aktiv etwas unternimmt. Die Schweiz lässt sich eher in ihren Platz in der Welt hintreiben... wie totes Holz in einem Fluss.