Kinderwagen an Kinderwagen, T-Shirt an T-Shirt haben sich Gutgelaunte am Wochenende durch die Strassen, Wälder und Pärke der Schweiz geschoben. Das Volk war draussen. Alle wollten nur eines: Sonne tanken.
Nicht einmal rappelvolle Wanderwege, Parkplatzmangel beim Wildpark und überfüllte Strassencafés hielten sie davon ab, in der Novemberwärme zu spazieren, zu radeln oder gar in Cabrios mit offenem Verdeck ganz Sommer-like durch die Gegend zu brausen. Von wegen Novemberblues. Wir stecken nicht in einer Herbstdepression, wir haben Frühlingsgefühle. Manch einer mag kaum glauben, dass der Sommer längst passé ist.
Kein Wunder. Die Temperaturen stiegen vergangenes Wochenende an vielen Orten auf über 20 Grad. Am wärmsten war es in Chur (21.6 Grad). Wetterexperten sprachen von einem absoluten Rekordtag. Doch auch die Woche davor waren wir schon mit viel Sonnenschein und «Beinahe-T-Shirt-Wetter» gesegnet. Und: Es bleibt mild. Erst Mitte November soll es wieder schlechter werden.
Wir sind so glückselig über diese warmen Herbsttage und erfreuen uns ab der bunten Blätterpracht, dass wir sie mit der ganzen Welt teilen wollen. Auf Facebook, Instagram und Co. wimmelt es von herbstlichen Schnappschüssen. Kinder tollen im Blätterregen, Wanderer spazieren im Herbstlicht. Das Lieblingsmotiv aber: der Baum. Herbstbäume sind die neuen Katzen; statt Foodporn betreiben wir jetzt «Treeporn». In allen Grössen, Farben und Formen werden die Laubbäume hochgeladen. #herbsttag, #autumnoflove #sehtmaldiebuntenblätter #treegasm. Voller Euphorie die User. Wir sind im Rausch. Wir sind alle auf Herbst.
Tatsächlich, ist ein Gefühlsrausch gar nicht so weit hergeholt. Denn wir baden gerade im Stimmungsaufheller Serotonin. Der Stoff wird auch Glückshormon genannt.
«Wenn sehr viel Sonne scheint, hat das Hormon Serotonin eine längere Verweildauer im synaptischen Spalt zwischen unseren Hirnzellen», beschreibt Birgit Kräuchi, Chefärztin der Psychiatrischen Dienste Aargau, den Superstoff.
Sonnenschein, aber auch künstliches Licht, regt die Produktion von Serotonin an. Zu den bekanntesten Wirkungen des Hormons auf das Zentralnervensystem zählen seine Auswirkungen auf die Stimmungslage. Es gibt uns das Gefühl der Gelassenheit, inneren Ruhe und Zufriedenheit und dämpft dabei negative Gefühlszustände. Depressive Menschen haben etwa einen um 50 Prozent verminderten Serotoningehalt im Blutserum.
Forscher haben einen positiven Zusammenhang zwischen der Serotonin-Synthese und den Sonnenstunden während eines Tages ermittelt. So ist unser Serotonin-Spiegel im Sommer höher als in den Wintermonaten. Zudem ist die Ausschüttung des Schlafhormons Melatonin bei langen, hellen Phasen am Tag geringer.
Bei längeren Dunkelperioden ist es umgekehrt: Wir haben zu viel Melatonin und sind müde. Das zerrt an der Stimmung. «Wir sind schlapp, wollen mehr schlafen und nicht so gern aus dem Bett», beschreibt Kräuchi unsere Befindlichkeit in den Wintertagen.
Auslöser ist der Mangel an Tageslicht. «Licht ist etwas ganz Essenzielles für uns. Wir brauchen viel Licht», erklärt die Expertin. Fehlt die Lichtquelle, fördert das die Entstehung einer Depression. Den Novemberblues gibt es also wirklich, das belegen auch Studien. Man spricht auch von SAD – saisonal abhängige Depression. Es mutet leicht ironisch an, dass die Abkürzung auf Englisch «sad», also traurig, ergibt. Gemäss Kräuchi hat jeder Vierte diese leichte Symptomatik. Doch eine Winterdepression sei eine sehr abgemilderte Form der klassischen Depression.
Gut also, dass unser Herbst so schön ist und gute Laune macht. Doch manch einer fühlt sich an warmen Herbsttagen unter Druck: «Bei dem Wetter musst du doch raus», schreit das Gewissen. Bleibt man drinnen, muss man sich für das Stubengehocke rechtfertigen. Dabei sehnt man sich klammheimlich nach düsteren Nebeltagen. Um zu Hause mal auszumisten, die Wohnung gemütlich herzurichten, Serien zu gucken oder die Bettdecke über den Kopf zu ziehen.
Ach was, sagt der gut gelaunte Bäumli-Poster und tankt Licht, Wärme und Stimmung auf Vorrat. Er zelebriert das Batterienladen in den sozialen Netzwerken mit seinen Mitmenschen, weil er weiss, wie sich ein kalter, vernebelter Herbsttag anfühlt. Weil der November auch anders kann. Der Novemberblues jeder Zeit ertönen kann. Jederzeit könnten die Instrumente ansetzen und ihn uns spielen.