Die Finanzkrise von 2008 war eine Zäsur: Damals musste die Grossbank UBS vom Bund und der Nationalbank mit einer Hauruck-Übung vor dem Kollaps gerettet werden. Ein Konkurs wurde ausgeschlossen, denn die UBS galt als systemrelevant. Oder «too big to fail» – zu gross, um zu scheitern. Diese Redewendung ging in die Umgangssprache ein.
Nun wird sie erneut bemüht, doch dieses Mal geht es nicht um den Finanz-, sondern um den Strommarkt. Seit Russland die Gaslieferungen nach Europa gedrosselt und via die Pipeline Nord Stream 1 sogar ganz eingestellt hat, spielen die mit dem Gasmarkt verknüpften Strompreise verrückt. Sie hätten «jeden Bezug zur Realität verloren», erklären Stromhändler.
Das bringt die Energiekonzerne ins Schleudern. Die Axpo klopfte deshalb beim Bund an und reichte ein Gesuch um temporäre Liquiditätsunterstützung ein, wie Energieministerin Simonetta Sommaruga am Dienstag vor den Medien erklärte. Der Bund ging darauf ein, denn Axpo gehört mit Alpiq und BKW zu den systemkritischen Stromunternehmen.
«Wir müssen jetzt alles tun, um einen Energieengpass zu verhindern», sagte Sommaruga. Mit anderen Worten: «Too big to fail» is back. Das sind die Hintergründe:
Die Situation ist an sich paradox, denn mit den aktuellen Preisen müssten die Stromkonzerne eigentlich viel Geld verdienen. Das Problem sind die Marktmechanismen. Die Firmen verkaufen ihren Strom in der Regel zwei bis drei Jahre im Voraus, oder im Fachjargon «auf Termin», um ihren Kunden Planungssicherheit zu ermöglichen.
Im aktuellen, extrem volatilen Marktumfeld aber müssen die Produzenten hohe Sicherheiten hinterlegen für den Fall, dass sie den Strom nicht liefern können. Benoît Revaz, der Direktor des Bundesamtes für Energie (BFE), sagte an der Medienkonferenz vom Dienstag, die geforderten Sicherheitsgarantien seien teilweise fast so hoch wie der Verkaufspreis.
Der damit verbundene Liquiditätsbedarf bringt selbst an sich finanziell gesunde Firmen wie die Axpo ins Schleudern. Das Problem begann nicht erst mit dem Ukraine-Krieg. Schon im letzten Winter spielten die Strompreise teilweise verrückt, wegen einer Windflaute in Deutschland und weil mehrere französische Atomkraftwerke ungeplant ausfielen.
Kurz vor Weihnachten ersuchte deshalb Alpiq den Bund um eine temporäre Liquiditätshilfe von rund einer Milliarde Franken. Das Lausanner Unternehmen zog das Gesuch schliesslich zurück, doch der Bundesrat war alarmiert. Er schlug einen mit maximal zehn Milliarden Franken dotierten Rettungsschirm für die systemkritischen Stromfirmen vor.
Der Ständerat stimmte in der Sommersession zu, doch eine dringliche Verabschiedung des Geschäfts lehnte das Parlament ab. Der Nationalrat wird es erst in der nächste Woche beginnenden Herbstsession behandeln. Als am letzten Freitag der Hilferuf von Axpo erfolgt war, aktivierte der Bundesrat den Rettungsschirm mit einer Notverordnung.
In einer ausserordentlichen Sitzung beschloss er, der Axpo einen Kreditrahmen von 4 Milliarden Franken zur Verfügung zu stellen. Das bedeutet nicht, dass das Geld fliessen wird, aber das Unternehmen mit Sitz in Baden kann im Notfall darauf zurückgreifen. Verbunden ist die Bundeshilfe mit strengen Auflagen wie einem Dividendenverbot.
Einige Firmen verdienen im aktuellen Marktumfeld tatsächlich viel Geld. Die Abschöpfung solcher «Übergewinne» ist in ganz Europa ein Thema. Bundesrätin Sommaruga gab sich bei dieser Frage zurückhaltend. Allerdings gibt es Vorwürfe von Marktbeobachtern, wonach bei der Entwicklung der Strompreise auch ein hohes Mass an Spekulation im Spiel sei.
Sommaruga zog bei diesem Punkt selber einen Vergleich zur Finanzkrise. Wie damals im Bankensektor brauche es wohl für den Energiesektor strengere Transparenzvorschriften. Zuerst gehe es darum, einen «Flächenbrand» mit allen Mitteln zu verhindern. Mittelfristig müsse über strengere Eigenmittelvorschriften und mehr Transparenz diskutiert werden.
Axpo und Alpiq begrüssten die Aktivierung des Rettungsschirms. Die BKW als dritter systemrelevanter Player im Schweizer Strommarkt hält den Rettungsschirm hingegen «nicht für das richtige Mittel». BFE-Direktor Benoît Revaz erklärte am Dienstag, die Situation auf den Strommärkten sei derzeit sehr undurchsichtig und nicht voraussehbar.
Zu befürchten ist, dass sich die Lage im Herbst und Winter zuspitzt und weitere Unternehmen in finanzielle Schieflage geraten werden. Ein Hoffnungsschimmer ist die Ankündigung der französischen Regierung, alle 56 Atomkraftwerke im Winter wieder hochzufahren. Doch die Lage bleibt volatil. «Too big to fail» ist definitiv zurück.