Es war eines der Mega-Themen im Wahljahr: die Zuwanderung. Die SVP entfachte eine breite Diskussion um eine «10-Millionen-Schweiz», die viele Menschen an die Urne trieb. Das Bevölkerungswachstum beschäftigt, umso mehr weil die Zuwanderung ein Rekordniveau erreicht hat.
81'345 Ausländerinnen und Ausländer sind unter dem Strich zwischen Januar und Oktober 2023 nach Angaben des Staatssekretariats für Migration (SEM) bereits in die Schweiz eingewandert. Bis Ende Jahr dürften es vermutlich 100'000 sein. Zumindest ist das die Zahl, mit der auch der Bundesrat rechnet. Das sind viel mehr als üblich: In den vergangenen 20 Jahren lag die Nettozuwanderung bei durchschnittlich 64'000 Personen pro Jahr.
Eine ähnlich grossen Bevölkerungszuwachs wie dieses Jahr verzeichnete die Schweiz zuletzt 2008. Damals waren die Zahlen so hoch, weil kurz davor die volle Personenfreizügigkeit mit Bulgarien und Rumänien eingeführt wurde. Zudem florierte die Schweizer Wirtschaft, bis sie von der weltweiten Finanzkrise erfasst wurde und dadurch auch die Zuwanderung einbrach.
Schon seit dem Frühjahr 2021 steigen die Zuwanderungszahlen rasant – und einmal mehr dürfte die Wirtschaftslage dafür verantwortlich sein: Der wichtigste Treiber des jüngsten Anstiegs seien die vielen neu geschaffenen Stellen, die auch den Fachkräftemangel befeuern, sagt Michael Siegenthaler, Arbeitsmarktexperte bei der Konjunkturforschungsstelle (KOF) der ETH Zürich. Doch dazu später mehr.
Die allermeisten eingewanderten Personen kommen nach wie vor aus den drei grossen Nachbarländern – Deutschland, Italien und Frankreich. Im laufenden Jahr machte diese Ländergruppe mehr als einen Drittel der Nettozuwanderung aus.
Über die letzten Jahre zogen vor allem wieder mehr Deutsche in die Schweiz. Während 2019, vor der Pandemie, noch netto 5889 Deutsche einwanderten, waren es 2021 schon 8123. Im vergangenen Jahr lag der Zuwachs aus Deutschland schon bei 11'390 Personen, was 15 Prozent der gesamten Nettozuwanderung entspricht. Und auch in diesem Jahr nimmt die Zahl der deutschen Einwanderer weiterhin zu.
Eine mögliche Erklärung sieht Arbeitsmarktspezialist Siegenthaler darin, dass sich der abschreckende Effekt der Masseneinwanderungsinitiative der SVP von 2014 verflüchtigt hat. Oder anders gesagt: Das Gefühl, in der Schweiz nicht willkommen zu sein, das damals vor allem Deutsche äusserten, ist nun nicht mehr so präsent. Studien, die dies belegen, gibt es allerdings keine.
Für die These spricht, dass in den Jahren nach der knappen Annahme der Initiative der Anteil der Deutschen an der Nettozuwanderung einbrach und seit 2016 wieder kontinuierlich steigt. Jedoch waren die Zahlen schon mal viel höher. Im Rekordjahr 2008, bevor die Finanzkrise ausbrach, wanderten unter dem Strich 31'463 Deutsche zu – zweieinhalb mal so viel wie im laufenden Jahr.
Bemerkt werden dürfte der jüngste Anstieg der Deutschen vor allem in den Kantonen Zürich, Aargau und Basel, wo sich in dieser Reihenfolge die meisten niederliessen. Allgemein gilt: Die Zuzüger aus den Nachbarländern zieht es meist dorthin, wo ihre Muttersprache gesprochen wird.
Rund die Hälfte der eingewanderten Personen im laufenden Jahr kamen wegen eines Jobangebots in die Schweiz. Ein weiteres Viertel macht der Zuzug oder Nachzug von Familienangehörigen aus.
Ausländische Arbeitskräfte werden in der IT-Branche und im Gastgewerbe besonders gebraucht, wie Daten der Ausländerstatistik zeigen. Von den insgesamt fast 88'000 rekrutierten ausländischen Arbeitskräften traten 40 Prozent eine langfristige Stelle in einer diesen beiden Branchen.
Die Branche mit den meisten neuen ausländischen Arbeitskräften heisst «Planung, Beratung, Informatik». Dazu gehören Software-Entwickler, Qualitätsmanagerinnen in der Produktion oder Cyber-Spezialisten. IT-Fachleute sind in der Schweiz gesucht. Sie belegen den zweiten Platz auf dem Fachkräftemangel-Index von 2023 des Personaldienstleisters Adecco. Kaum überraschend hat der Ausländeranteil in dieser Branche im letzten Jahrzehnt stark zugenommen: Er stieg von 19 auf 31 Prozent Ende 2022.
Im Gastgewerbe fielen während der Pandemie rund 20 Prozent aller Stellen weg. Auch wenn viele Restaurants und Hotels noch immer nach Personal suchen, hat sich die Branche als Ganzes wieder erholt. Mehr noch: Im Herbst lag die Zahl der Beschäftigten erstmals über dem Vorkrisenniveau.
Schon vor der Pandemie hatte das Gastgewerbe den höchsten Ausländeranteil aller Branchen mit 44 Prozent. Gemäss den neusten Zahlen des Bundes von Ende 2022 hat mittlerweile schon 48 Prozent des Personals einen ausländischen Pass. Dies vor allem, weil sich viele inländische Arbeitnehmende während der Lockdown-Phase beruflich neu orientierten.
Am stärksten gewachsen in absoluten Zahlen ist zuletzt das Gesundheits- und Sozialwesen. Über 50'000 zusätzliche Stellen wurden seit Anfang 2021 besetzt, wie die Beschäftigungsstatistik des Bundes zeigt. Der Fachkräftemangel zwingt Spitäler dazu, vermehrt im Ausland aktiv nach Personal zu suchen. Ende 2022 lag der Ausländeranteil bei 23 Prozent.
Am dringendsten sind Spezialisten und Spezialistinnen in Gesundheitsberufen gesucht – also Ärztinnen, aber auch Pflegefachkräfte und Apotheker. Sie stehen auf Platz eins des Fachkräftemangel-Index.
Gesundheitspersonal fehlt nicht nur in der Schweiz, sondern auch in vielen anderen Ländern. Zudem spüren die meisten Industrieländer ebenso wie die Schweiz in weiteren Branchen die Lücke, welche die pensionierten Babyboomer hinterlassen. Und trotzdem: «Wenn Schweizer Firmen im Ausland rekrutieren wollen, schaffen sie das auch jetzt noch – vor allem wegen des attraktiven Lohns», sagt Siegenthaler.
Genauso wie die Zuwanderung angestiegen ist, hat sich auch die Zahl der Beschäftigten in der Schweiz rasant vergrössert. Seit Anfang 2021 haben Firmen über 300'000 Stellen geschaffen. Ein gleich grosses Wachstum gab es zwischen 1991 und 2008. Schon nächstes Jahr dürfte sich der Stellenausbau aber wieder normalisieren, da sich nun auch die Aussichten für die Schweizer Wirtschaft trüben – vor allem in der Industrie. Der Arbeitsmarkt hinke der Konjunktur immer etwas hinterher, so Siegenthaler.
Das Niveau des Arbeitskräftemangels wird allerdings weiterhin hoch bleiben. Dies, auch weil die geburtenreichsten Jahrgänge der Babyboomer erst noch in Rente gehen. Die KOF geht daher davon aus, dass die Nettozuwanderung zwar leicht sinken wird, aber auch weiterhin über 65'000 Personen pro Jahr liegen dürfte.
Je früher desto besser für die Glaubwürdigkeit der Politik in der Schweiz.