«Die Zuwanderung wird wieder zum Thema – zur Freude der SVP.» So lautete der Titel einer Story, die ich vor einem Jahr publiziert hatte. Wie immer in solchen Fällen blieben negative Reaktionen nicht aus. Am Thema Migration verbrennt man sich hierzulande leicht die Finger. Doch meine Prognose traf ein: Die SVP legte bei den Wahlen im Oktober zu.
Mit dem «Schreckgespenst» einer 10-Millionen-Schweiz erzielte sie das drittbeste Ergebnis ihrer Geschichte. Dabei profitierte sie von einem altbekannten «Übel»: Medien, Parteien und Wirtschaftsakteure entziehen sich einer Debatte über die Zuwanderung. Diese Haltung trug schon zur Annahme der Masseneinwanderungsinitiative vor zehn Jahren bei.
Das Ja zur Initiative war ein Schock für viele. Am Ende wurde sie nur sehr rudimentär umgesetzt, weil die Europäische Union zu keinerlei Zugeständnissen beim Freizügigkeitsabkommen bereit war. Das spielte vorerst kaum eine Rolle, denn die Arbeitsmigration war für einige Jahre rückläufig. Seit dem Ende der Corona-Pandemie aber legt sie wieder deutlich zu.
Im Jahr 2022 betrug die Nettozuwanderung laut dem Bundesamt für Statistik mehr als 80'000 Personen. Der Grund dafür ist simpel: Die geburtenstarken Babyboomer-Jahrgänge werden sukzessive pensioniert. Wegen der seit Jahren tiefen Geburtenrate in der Schweiz aber rücken zu wenig Junge nach. Also holt man Arbeitskräfte aus dem Ausland.
Dabei gibt es ein «Problem»: Wegen der gestiegenen Lebenserwartung «verschwinden» die Alten nicht einfach. Folglich wächst die Gesamtbevölkerung. Die 9-Millionen-Marke soll 2023 überschritten worden sein. Die «10-Millionen-Schweiz» der SVP rückt näher. Das hat Konsequenzen in manchen Bereichen, zum Beispiel im öffentlichen und privaten Verkehr.
In Trams, Bussen und Zügen herrscht nicht nur in den Stosszeiten ein Gedränge. Ein Kapazitätsausbau aber ist wegen des schon heute dichten Fahrplans in der Schweiz nur sehr beschränkt möglich. Auch auf den Strassen nimmt die Zahl der Staustunden zu. Der vom Parlament beschlossene Ausbau der Autobahnen ist höchstens «Pflästerlipolitik».
Eine eigentliche Krise zeichnet sich auf dem Wohnungsmarkt ab. Trotz anhaltend hoher Nachfrage war der Wohnungsbau in den letzten Jahren rückläufig. Mehrere Gründe werden als Ursache vermutet: knappes Bauland, fehlende Fachkräfte, Lieferengpässe und die Teuerung. Eine Trendwende ist gemäss CH Media nur langsam in Sicht.
Ein limitiertes Angebot aber bedeutet steigende Mieten, vor allem wenn die Bevölkerung wächst und gleichzeitig der Referenzzinssatz angehoben wird. Besonders akut ist die Lage in Ballungsräumen wie Zürich. Selbst Wohnbaugenossenschaften verlangen dort gemäss der «NZZ am Sonntag» Preise, die sich kaum noch als «gemeinnützig» bezeichnen lassen.
Politiker und Wirtschaftsvertreter verweisen gerne auf den wachsenden Flächenbedarf und die steigende Zahl der Single-Haushalte. Doch zuletzt nahmen die Mehrpersonenhaushalte zu. Das liegt nicht an einem neuen Zusammengehörigkeitsgefühl. Immer mehr Leute können sich eigene vier Wände nicht mehr leisten und teilen sich notgedrungen eine Wohnung.
Wenn weiterhin zu wenig Wohnungen gebaut werden, dürfte sich das Problem zuspitzen. Wohin das führen könnte, zeigt die Republik Irland. Ende November kam es in Dublin zu schweren Ausschreitungen, nachdem ein offenbar verwirrter irischer Staatsbürger mit «Migrationshintergrund» eine Frau und drei Kinder mit einem Messer angegriffen hatte.
Sogleich folgten die üblichen Reflexe: Einmal mehr habe eine verfehlte Migrationspolitik katastrophale Folgen gehabt. Doch die Polizei fand keinen Hinweis auf ein terroristisches Motiv. Und gestoppt wurde der Angreifer von einem Lieferdienstfahrer aus Brasilien. Voreilig war auch die Behauptung, dass vorab Rechtsextreme randaliert hätten.
Sie waren an den Krawallen beteiligt, doch hauptsächlich waren es junge Menschen, die sich nicht wegen fremdenfeindlichen Motiven «austobten», sondern aus Langeweile und Frust. Denn besonders im Grossraum Dublin herrscht Wohnungsnot, erkennbar etwa an den vielen Obdachlosen. Hauptursache ist auch hier die Arbeitsmigration.
Die Bevölkerung wuchs 2022 um fast 100'000 Personen, bei einer Gesamtbevölkerung von etwas mehr als fünf Millionen. Selbst wenn man die rund 40'000 Ukrainer ausklammert, ist die Zuwachsrate höher als in der Schweiz. Dabei war Irland bis in die 1980er-Jahre ein Auswanderungsland. Seither hat sich die Republik zum «keltischen Tiger» entwickelt.
Besonders US-Techgiganten liessen sich auf der Grünen Insel nieder, dank tiefen Steuern und einer inexistenten Sprachbarriere. Auch Google, auf dessen Präsenz man in Zürich so stolz ist, hat seinen Europa-Hauptsitz in Dublin. Der Wohnungsbau aber hielt mit dieser Entwicklung nicht Schritt – und die zerbröselnden Häuser sind nur ein «Nebenschauplatz».
Dabei wären die Voraussetzungen vorhanden. Die gesamte Insel, inklusive des britischen Nordens, ist doppelt so gross wie die Schweiz, bei einer deutlich geringeren Bevölkerung. Bei uns kommt erschwerend hinzu, dass die nutzbare Fläche stark eingeschränkt ist. Das führt zu verschärften Zielkonflikten zwischen Naturschutz, Landwirtschaft und Besiedlung.
Den Kürzeren zieht meist die Natur, obwohl es um den Artenschutz schlecht steht. Doch eine wachsende Bevölkerung braucht Nahrungsmittel und Wohnraum. Dieser kann eigentlich nur durch Verdichtung geschaffen werden, doch das ist häufig leichter gesagt als getan. Es gibt viele Hindernisse, etwa Lärmschutzvorschriften und einsprachefreudige Nachbarn.
Bleibt die Zuwanderung auf dem heutigen Stand, dürfte sich das Wohnungsproblem in den nächsten Jahren verschärfen. Wie lassen sich «Dubliner Verhältnisse» verhindern? Seit Jahren wird gefordert, das hiesige Potenzial an Arbeitskräften besser auszuschöpfen. Faktisch tut sich (zu) wenig, etwa bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Wer es versucht, gerät rasch an den Anschlag, wie die Artikelserie meiner Kollegin Anna Kappeler zeigt. Irritierend ist auch, dass gemäss Bundesamt für Statistik fast 700'000 Personen in der Schweiz «unterbeschäftigt» sind. Ein Grund dafür sind HR-Algorithmen, die automatisch alle aussortieren, die nicht haargenau ins Stellenprofil passen.
Es gäbe genug Stoff für eine Zuwanderungs-Debatte ohne Polemik. Denn die SVP hat ausser der Forderung, die Schweiz müsse die Zuwanderung «eigenständig» steuern, nichts zu bieten. Die Grünen propagieren Vorschriften für eine Mindestbelegung von Wohnungen. Fragt man sie jedoch nach ihrer eigenen Wohnfläche, ist die Antwort dröhnendes Schweigen.
So wird die SVP weiterhin leichtes Spiel haben. Dabei hat sogar die NZZ kurz vor Weihnachten betont, dass sie ein Teil des Problems und nicht der Lösung ist: «Ihre Steuerpolitik befördert den Zuzug internationaler Unternehmen und Fachkräfte.» Die Bekämpfung des Bevölkerungswachstums sei für sie «nur ein Vehikel, um die Asylpolitik zu problematisieren».
Eigentlich wäre der Fall klar. Trotzdem haben die anderen Parteien Hemmungen, sich an der Zuwanderung die Finger zu verbrennen. Für die Wirtschaftsverbände gilt das erst recht. Man räumt Probleme bei der Infrastruktur ein, doch selbst der gerne polternde Gewerbeverband gibt sich zu diesem Thema einsilbig. Als wäre die Arbeitskräfte-Migration alternativlos.
Man könnte sich fragen, wie es andere machen, etwa das noch rapider alternde und traditionell «migrationsfeindliche» Japan. Dort setzt man auf Automatisierung. Bei uns wäre die Akzeptanz von Pflegerobotern wohl limitiert. Wollen wir unser Wohlstandsniveau jedoch halten, ist eine ehrliche Debatte über die Zuwanderung zwingend notwendig.
Andernfalls wird das im NZZ-Kommentar geschilderte Szenario Realität: «Beschäftigen sich die Parteien nicht damit, wird das Thema immer wieder zur Abstimmung kommen und die SVP damit dauerhaft Wahlsiege feiern.» Wir hätten es nicht anders verdient.
Warum?
Weil die Zwanderung Infrastruktur braucht, welche vorzu neu geschaffen werden muss mit immer mehr Personal.
Darum ist die Aussage falsch, dass wir Zuwanderung brauchen, denn die Zuwanderung ist selber das Problem.