Dagmar Jenni, Direktorin des Detailhandelsverbands Swiss Retail Federation, ist konsterniert. «Wir haben schon mit kritischen Kommentaren gerechnet und wollten diesen Dialog. Aber dass es so ausartet, hat mich überrascht», sagt sie.
Grund für ihren Frust sind gewisse Reaktionen auf die «Bin kein Baby»-Kampagne, die ihr Verband letzte Woche zusammen mit den Lobby-Verbänden von Gastronomie und Handel sowie dem Konsumentenforum gestartet haben.
Dank der Unterstützung von Werbefirmen wie APG, Goldbach oder Livesystems sind auf sehr vielen Plakatwänden und Bildschirmen im Land Bilder von Erwachsenen mit einem Nuggi im Mund zu sehen. In grossen Buchstaben wird vor Verboten von Gummibärchen, Steaks, Autos oder Werbeplakaten gewarnt. Die Nuggis sind eine Referenz auf den «Nanny State». Es geht um die Befürchtung, der Staat bevormunde Bürgerinnen und Bürger zu sehr.
Einzelne dieser Plakate wurden schon kurz nach der Lancierung der Kampagne beschädigt oder mithilfe von Klebeband durchgestrichen. Dies zeigt ein Augenschein in Zürich und ein Bild, das die Initianten veröffentlichten. «Unsere Kampagnenplakate in Zürich werden von radikalen Werbegegnern überklebt – ein Zeichen von mangelnder Toleranz und Respekt. Und ein Zeichen, wie wichtig unsere Kampagne ist!», schreiben sie auf der Online-Plattform Linkedin.
Auch online stösst die Kampagne auf Widerstand. Das zeigt sich auf der Website «bin-kein-baby.ch». Interessierte sind dazu aufgerufen, dort in einem Forum ihre Meinung abzugeben. Die Frage der Woche lautet: «Welche Verbote oder Vorschriften ärgern dich zurzeit besonders?»
Einige nehmen die Frage ernst, schreiben über ihre Angst vor einem Benzinerverbot oder postulieren: «Zurück zur Selbstverantwortung und zum vernünftigen Menschenverstand.» Die meisten Beiträge wenden sich aber gegen die Kampagne selbst oder mokieren sich darüber.
Auf Französisch schreibt jemand unter einem Pseudonym, er wolle selber entscheiden, wann er den Karton für die Abfuhr vors Haus stelle. Andere fordern die Abschaffung der Gurtenpflicht oder stellen sarkastisch das Inzest- oder Kinderarbeitsverbot infrage.
Dagmar Jenni vom Detailhandelsverband kontert diese Beiträge mit einem eigenen Kommentar: «Die Kampagne scheint bei den Gegnern einen Nerv getroffen zu haben, denn sie versuchen händeringend die Kampagne so darzustellen, als würden sich die Unterstützer generell gegen Regulierungen stellen, was absolut lächerlich ist!»
Während Jenni einen Teil der Wortmeldungen mit Humor nimmt, ärgert sie sich über Versuche, das Forum lahmzulegen. Schon letzte Woche war die Kommentarfunktion für einige Stunden abgeschaltet, weil die Informatiker die Seite nachrüsteten.
Der Grund war der Verdacht, dass Personen mehrfach unter verschiedenen Namen polemische Beiträge verfasst hätten. Statt komplett anonym, kann nun nur noch mit gültiger E-Mail-Adresse kommentiert werden. Doch auch diese Massnahme hinderte Kampagnengegner nicht daran, Unfug mit dem Forum zu treiben.
Am Mittwoch dieser Woche wurde das Forum von einem anonymen Nutzer mit Tausenden Satzzeichen geflutet, die zusammen das Bild von Dutzenden Penissen ergaben. Um zu älteren Beiträgen zu gelangen, mussten Nutzerinnen und Nutzer lange scrollen. Der Beitrag wurde unterdessen entfernt.
Auf der Plattform Linkedin schrieb Jenni, dass sich in dieser Aktion das «hässliche Gesicht der Anonymität» zeige, und kommt zum Schluss: «Wenn die Argumente ausgehen, wird die Meinungsdebatte kurzerhand mit Penis-Bildern gesprengt.»
Im Gespräch mit dieser Redaktion kann sie der grundsätzlich ärgerlichen Sache auch etwas Positives abgewinnen. «Mehrere KMUs boten uns spontan Unterstützung an, weil sie die Kampagne wichtig finden. Wir arbeiten nun daran, das Forum noch stärker vor Missbrauch zu schützen.»
Hintergrund der «Bin-kein-Baby»-Kampagne sind unter anderem vom Zürcher Stadtparlament befürwortete Einschränkungen der Aussenwerbung sowie Bestrebungen des Bundes, an Kinder gerichtete Werbung für ungesunde Lebensmittel zu verbieten. (aargauerzeitung.ch)
Well played..
Einem Süchtigen die „freie“ Wahl zu lassen, ist eine Verarschung…