Selbstversorgung statt Arzt: Neocitran-Hersteller drängt auf «self care»
Die jährliche Grippewelle rollt an. Jeweils zwischen Dezember und April schnellen die Infektionszahlen in die Höhe. Für die vergangene Saison vermeldete der Bund gar neue Rekordwerte. Der Schwerpunkt der Welle lag im Januar.
Für die allermeisten Betroffenen verlief die Grippe glücklicherweise milde. Zudem zeigen die offiziellen Daten nur die Spitze des Eisbergs. Unzählige Erkrankte tauchten gar nie in der Statistik auf, weil sie nicht zum Arzt gingen. Sie blieben zu Hause, ruhten sich aus, holten sich in der Apotheke ein Mittel zur Symptombekämpfung.
Das ist ganz im Sinne der Apotheken – und von Haleon, dem Hersteller von Neocitran. Der britische Konzern hat sich ganz der «self care» verschrieben. Damit ist gemeint, dass Patientinnen und Patienten sich bei Erkältung, Grippe oder Kopfschmerzen selber zu helfen wissen, idealerweise ohne teuren Arztbesuch.
Dafür bietet Haleon neben Neocitran gegen Grippe auch den Nasenspray Otrivin gegen Erkältung oder die Salbe Voltaren gegen Gelenkschmerzen an. Für diese Produkte braucht es kein ärztliches Rezept. Haleon entstand aus verschiedenen Zusammenschluss- und Abspaltungsmanövern der Firmen GSK, Pfizer und Novartis. Heute ist es eine eigenständige, börsenkotierte Firma.
Ein bekannter Kassenschlager
Insbesondere Neocitran, das Paracetamol, Phenylephrin und Vitamin C enthält, ist hierzulande sehr bekannt. «Es ist unser meistverkauftes Produkt», sagt Dessi Lavery, General Manager von Haleon in der Schweiz, im Gespräch mit CH Media. Die Firma beschäftigt in der Schweiz 1000 Angestellte und betreibt in Nyon eine Produktionsstätte.
«Es gibt immer noch viele Menschen, die bei einer Grippe direkt zum Arzt gehen, statt in die Apotheke», sagt Lavery. «Das belastet das Gesundheitssystem massiv.» Die 48-Jährige ist überzeugt, dass in der Schweiz beträchtliches Sparpotenzial durch die Selbstmedikation besteht. Wer zuerst in die Apotheke geht und sich dort beraten lässt, belaste nicht unnötig das knappe Zeitbudget der Hausärzte der gar im Spital-Notfall.
Der Effekt lässt sich mit Zahlen belegen. Eine deutsche Studie zählte in Europa jährlich 1,2 Milliarden Fälle, bei denen Patienten ihre kleinen Beschwerden selbst behandelten. Daraus resultierten Einsparungen von 10 Milliarden Euro. Die Grundversorgung wurde so spürbar entlastet, weil die Ärzte geschätzt 2,4 Arbeitsstunden pro Tag für dringendere Fälle aufwenden konnten. Auch die Erkrankten selbst können im besten Fall früher an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Das spart wiederum Kosten.
Selbstmedikation hat Grenzen
Für die Schweiz rechnet der Apothekerverband Pharmasuisse mit ähnlichen Auswirkungen. Eine Studie mit Details erscheine demnächst, heisst es auf Anfrage. «Wir bewerten die Selbstfürsorge positiv als Teil eines modernen Versorgungsmodells», sagt eine Sprecherin. «Wenn Apotheken Beratungs- und Self-Care-Anlaufstellen sind, kann dies kostendämpfend wirken, indem beispielsweise Arzt- oder Notfallkontakte vermieden werden oder später und effektiver erfolgen, indem die Triage bereits in der Apotheke stattfand.»
Selbstredend birgt die Selbstmedikation auch Tücken. Sie darf nicht dazu führen, dass langanhaltende Symptome ignoriert und mit Medikamenten überdeckt werden. Schliesslich könnten klassische Grippe-Symptome, die lange anhalten, auf ein schwerwiegenderes Problem hindeuten, das sich nicht mehr mit klassischen Grippe-Mitteln behandeln lässt. «Wenn innert nützlicher Frist keine Besserung auftritt, ist der Arztbesuch ein Muss», betont Dessi Lavery.
Um das Konzept der «self care» breiter zu verankern, lobbyiert die Schweizer Haleon-Chefin auch beim Bundesamt für Gesundheit oder der Zulassungsbehörde Swissmedic. Dabei geht es darum, den Zugang zu den eigenen Medikamenten in den Apotheken möglichst einfach zu gestalten. Das gelingt nicht immer. So versuchte Haleon das Neocitran forte – es enthält doppelt so viel Paracetamol wie die Standardvariante – in den Auslagen der Apotheken platzieren. Das erlaubten die Behörden nicht und klassifizierten das Medikament in der Kategorie B+. Diese Produkte darf die Apotheke nur auf Rezept oder nach Beratung vor Ort abgeben.
Doch Dessi Lavery gibt nicht auf. Sie möchte nicht nur ihre Klassiker wie Neocitran, das dieses Jahr das 40-jährige Jubiläum feiert, weiterentwickeln. Grosse Pläne hat das Unternehmen auch mit dem beliebten Nasenspray Otrivin. Eine neue Technologie sorgt dafür, dass der Sprühstoss sich wie ein feiner Nebel in der Nase verteilt. Zudem entfällt der Griff zwischen Daumen, Zeige- und Mittelfinger, um den Stoss auszulösen. Ein Knopfdruck reicht künftig aus. Haleon hat das Produkt erst im August auch in der Schweiz lanciert.
Kontroversen um Otrivin und Neocitran
Der neue Spray soll in der kommenden Grippe- und Erkältungssaison das hiesige Gesundheitssystem entlasten. Doch gerade bei den Kassenschlagern von Haleon, Neocitran und Otrivin, wird auch regelmässig Kritik laut. Wer etwa Nasensprays zu oft benutzt, baut eine Toleranz auf. Das bedeutet, dass man immer mehr zum Spray greifen muss, um eine Wirkung zu spüren. Dies führt laut Medizinern dazu, dass die Nasenschleimhäute verlernen, selbstständig an- und abzuschwellen. Es entsteht ein Teufelskreis, der längerfristig die Nasenschleimhäute schädigen kann. Dessi Lavery betont, dass es sich bei Otrivin um ein zugelassenes Arzneimittel handelt. «Wie bei jedem Medikament sollte die Packungsbeilage genau studiert und die Anweisung des Gesundheitspersonals befolgt werden.»
Bei Neocitran sorgte im Januar die Einschätzung der US-Arzneimittelbehörde FDA für Aufsehen. Sie schlug vor, dass der Wirkstoff Phenylephrin aus rezeptfreien, oral verabreichten Grippe-Mitteln wie Neocitran entfernt werden sollte. Die Experten zweifeln daran, dass er dort tatsächlich beim Abschwellen der Nasenschleimhäute hilft. Eine abschliessende Entscheidung der FDA steht allerdings noch aus. Dessi Lavery blickt gelassen auf die Kontroverse: «Der Vorschlag zielt auf die Wirksamkeit, nicht auf die Sicherheit und ist nur auf die USA anwendbar. Für Haleon hat Sicherheit und Produktqualität oberste Priorität.» Das Unternehmen ist weiterhin davon überzeugt, dass der orale Wirkstoff effektiv ist. (aargauerzeitung.ch)
