Kann man eine «Genossenschaft Schweiz» mit einer Shareholder-Value-Wirtschaft vermählen?
Das Schweizer Milizsystem ist eine Art Zwilling der direkten Demokratie. Rund 100'000 Bürgerinnen und Bürger haben in Gemeinden, Kantonen und Bund politische Ämter inne, meistens ehrenamtlich und nebenberuflich.
Das Milizsystem ist auch äusserst beliebt und wird von einer grossen Mehrheit der Bevölkerung befürwortet. Trotzdem sind immer weniger Schweizerinnen und Schweizer bereit, sich aktiv an diesem Milizsystem zu beteiligen. 2007 engagierten sich 26 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in der Freiwilligenarbeit, 2013 waren es nur noch 20 Prozent.
stellt Gerhard Schwarz, Direktor von Avenir Suisse, klar. Doch gleichzeitig gibt es unmissverständliche Anzeichen, dass das Milizsystem in seiner heutigen Form Abnützungserscheinungen aufweist. Deshalb fordert Schwarz: «Wir brauchen einen grossen Wurf, eine umfassende Reform.»
Kein nostalgischer Blick zurück
Der tragische Kindsmord von Flaach wird derzeit gerne dazu missbraucht, eine vermeintlich zu stark professionalisierte und damit auch technokratisierte Behörde wieder in die alte Form zurückzuführen. Das ist nicht das Ziel von Avenir Suisse. «Teilbereiche können und müssen professionalisiert werden. Es geht nicht um einen nostalgischen Blick zurück», sagt Andreas Müller, der die Studie geleitet hat.
Ziel des Vorstosses von Avenir Suisse ist es, die Kluft zwischen einer abgehobenen Classe politique und den Bürgerinnen und Bürger zu verringern. Auf diese Weise soll vermieden werden, dass sich auf der einen Seite eine weltfremde Elite und auf der anderen Wutbürger gegenüberstehen. Mit einer aktiven Beteiligung am Staat wird dieses Ziel am besten erreicht. «Auf diese Weise entsteht ein Bürger- und kein Bürokratenstaat», sagt Müller.
Mit Worten allein ist dieses Ziel nicht zu erreichen. Avenir Suisse schlägt daher ein Obligatorium vor: Jede Bürgerin und jeder Bürger, aber auch jeder niedergelassene Ausländer soll mindestens 200 Tage Dienst am Staat leisten. Dabei kann er wählen, ob er dies in der Armee, im Zivilschutz, in sozialen Diensten, in Umwelt- oder Entwicklungshilfeprojekten tun will. Auch die politische Arbeit in den Milizgremien soll angerechnet werden. In einer Zeit, in der wir alle immer älter werden, kann der Bürgerdienst auch im Alter zwischen 65 und 70 absolviert werden.
Die individuelle Leistung zählt, alles andere ist Beilage
Der Bürgerdienst soll die «Genossenschaft Schweiz» stärken, wie es Avenir Suisse überraschend formuliert. Andreas Müller beruft sich auf den Schriftsteller Gottfried Keller. «Für ihn war eine Privatperson noch kein Bürger. Das wurde er erst, wenn er sich aktiv am Staatswesen beteiligt.»
Die Schweiz als Genossenschaft ist eine sympathische Vorstellung. Sie hat bloss einen Schönheitsfehler: Wir leben in einem Wirtschaftssystem, das sich um 180 Grad in die andere Richtung entwickelt. In der Arbeitswelt wird heute alles gemessen und in Statistiken und Hitparaden festgehalten. Allein die individuelle Leistung zählt, alles andere ist Beilage, um es mit dem Slogan der Schweizer Metzger auszudrücken.
Passen eine immer mehr auf individuelle Leistung ausgerichtete Wirtschaft und ein wieder mehr auf Gemeinschaftssinn ausgerichteter Staat zusammen? Oder anders ausgedrückt: Kann man Shareholder Value und Genossenschaft unter einen Hut bringen?
Glanzzeit nach dem Zweiten Weltkrieg
Kein Problem, glaubt Gerhard Schwarz. «Der Bürgerdienst ist eine Art indirekte Steuer und er entlastet die Kassen der öffentlichen Hand», erklärt er. «Auf diese Weise können die eigentlichen Steuern tief gehalten und die Attraktivität des Wirtschaftsstandortes erhöht werden.»
Das Schweizer Milizsystem hat seine Glanzzeit in den 30 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg gehabt. Damals war die Bevölkerung dank des Krieges geeint, die Wirtschaft noch weit weniger globalisiert und der Wettbewerb ungleich weniger hart. Wer es ernst meint mit der «Genossenschaft Schweiz» – die Idee an sich ist begrüssenswert – der muss auch dafür sorgen, dass die Wirtschaft wieder «genossenschaftlicher» wird.
Technik wird die Wirtschaft wieder überschaubar machen
Dank dem technischen Fortschritt wird dies auch möglich sein. Smarte Netze, 3D-Drucker und immer intelligentere Software machen auch eine Wirtschaftsordnung möglich, die wieder überschaubar wird.
