Das Emissionshandelssystem (EHS) der Schweiz ist eines der wichtigsten politischen Instrumente, um den Klimaschutz voranzutreiben. Das Onlinemagazin Das Lamm hat die letzte Handelsperiode zwischen 2013 und 2020 genauer unter die Lupe genommen und dabei Erstaunliches entdeckt: Die Grosskonzerne, welche im EHS mitmachen, müssen für ihre enormen Emissionen nicht nur kaum etwas bezahlen, sondern verdienen dabei auch noch Geld.
Nur 0,01 Prozent aller Schweizer Firmen sind im EHS vertreten. Sie sind jedoch gleichzeitig verantwortlich für 10 Prozent der gesamten inländischen Emissionen. Zwischen 2013 und 2020 entgingen dem Bund nach Recherchen von Das Lamm 2,9 Milliarden Franken Einnahmen aus CO₂-Abgaben, und damit nicht genug: Zusätzlich bekamen die grössten Umweltsünder der Schweiz Emissionsrechte im Wert von etwa 361 Millionen Franken geschenkt – ganz legal, direkt vom Bund.
watson hat die Autorin der investigativen Artikel-Serie «Emissionshandelssystem: Eine Flatrate auf Monsteremissionen», Alex Tiefenbacher, für ein Interview getroffen und ihr die wichtigsten Fragen gestellt.
Wer in der Schweiz CO₂ verursacht, muss dafür bezahlen. Ob Privatperson, KMU oder Grosskonzern – wer fossilen Brennstoff oder Treibstoff verbraucht, blecht dafür. Für die grossen Player der Branchen, die am meisten Brennstoffemissionen verursachen – also beispielsweise die Metall- oder Zementindustrie –, ist die Teilnahme am EHS obligatorisch. Grosskonzerne aus anderen Branchen, wie zum Beispiel der Holz- oder Chemieindustrie, dürfen freiwillig mitmachen. Dem Grossteil der Schweizer Firmen ist die Teilnahme am Emissionshandelssystem untersagt – sie bezahlen pro Tonne Klimagas aus fossilen Brennstoffen 120 Franken CO₂-Lenkungsabgabe, genauso wie es Privatpersonen auch tun.
Ein Drittel der Einnahmen aus der CO₂-Lenkungsabgabe wird in Klimaschutzprojekte investiert. Zwei Drittel fliessen zurück an Bevölkerung und Wirtschaft. «Die Idee ist, dass Personen und Firmen, die klimafreundlich leben und wirtschaften, mehr zurückerhalten.» Bei Privatpersonen geschieht dies über einen Abzug von der monatlichen Krankenkassenprämie, bei Firmen wird dieser proportional zur versicherten AHV-Summe zurückerstattet. Für viel Unmut sorgt, dass auch EHS-Firmen Geld aus diesem Topf erhalten, obwohl sie nichts einbezahlt haben – somit ergibt sich für sie ein (weiterer) Vorteil gegenüber dem Rest der Schweiz.
Anstatt eine CO₂-Abgabe pro Tonne zu bezahlen, müssen die EHS-Firmen Zertifikate erwerben, die sie zum Emittieren befugen. «Man will den Emissionen damit einen Preis geben und durch die Verknappung dieser Zertifikate den Preis für Emissionen steigern. Die Anzahl Zertifikate nimmt jedes Jahr um einen bestimmten Prozentsatz ab. Das Ziel ist es, 2050 bei null angelangt zu sein», erklärt Tiefenbacher. Der Preis pro Zertifikat soll durch den freien Markt bestimmt werden – der einzige staatliche Eingriff ist deren Verknappung. Auch die EU kennt das Emissionshandelssystem, die Schweizer Variante ist mit jenem der EU verknüpft.
Die Wirkung des EHS ist aber gar nicht so einfach zu beurteilen, weil es innerhalb einer Handelsperiode immer wieder Austritte und Neueintritte gibt. Die schwierige Mess- und Vergleichbarkeit wurde auch von der Eidgenössischen Finanzkontrolle bemängelt – getan hat sich aber nichts. Trotzdem hat sich Alex Tiefenbacher zusammen mit «Das Lamm»-Redaktionskollege Luca Mondgenast hingesetzt und Folgendes herausgefunden: Während acht Jahren konnte – optimistisch berechnet – eine Reduktion von 10 Prozent Emissionen erzielt werden. «Wenn wir schauen, wo wir bis 2050 hinkommen müssen, ist klar: Das reicht nicht.»
Was eigentlich sinnvoll und relativ simpel klingt, gestaltet sich in der praktischen Umsetzung schwierig. Denn: Der Löwenanteil dieser Emissionszertifikate wird nicht gekauft, sondern vom Bund verschenkt. «Über den Daumen gepeilt, werden etwa 90 bis 95 Prozent aller Zertifikate verschenkt», meint die Journalistin. «Damit stellt sich die Schweiz ein Bein und betreibt Selbstsabotage.»
Begründet werden die Schenkungen mit der Angst vor sogenanntem Carbon Leakage. Darunter versteht man die Auslagerung von besonders emissionsintensiven Industrien ins Ausland. Dies ist problematisch, weil sie so erstens hierzulande keine Steuern mehr bezahlen und somit den Wirtschaftsstandort Schweiz schwächen. Und zweitens, weil sie so in Ländern produzieren, wo laschere bis kaum vorhandene Umweltschutzgesetze gelten, und dadurch einen noch grösseren Schaden anrichten können. Von diesen Gratiszertifikaten als präventive Massnahme haben vor allem jene Firmen profitiert, bei denen das Risiko als besonders hoch eingestuft wurde.
«Es kam in den letzten Jahren zu relativ wenig Carbon Leakage», gibt Tiefenbacher die Meinung der während der Recherche konsultierten Wissenschaftler wieder. Ob dies nun an den präventiven Massnahmen liegt oder daran, dass das Risiko als zu hoch eingeschätzt wurde, ist unklar. Wie gross das Risiko für Carbon Leakage nämlich in der Realität ist, darüber streiten sich die Experten. Alex Tiefenbacher hebt besonders die Zement- und Betonindustrie hervor: «Man ist sich unsicher, wie hoch das Risiko eines Standortwechsels in diesen Fällen ist, denn die Transportkosten für die Rohstoffe sind extrem hoch.» Man hätte also vielleicht auch mit weniger Gratiszertifikaten denselben Effekt erreichen können.
Hinzu kommt laut der Expertin ein weiteres Problem: die Ungleichbehandlung der Emissionsverursacher. Normale Bürgerinnen und Bürger sowie Firmen, die nicht beim EHS dabei sind, bezahlen deutlich mehr für ihre Emissionen. 120 Franken kostet eine Tonne Klimagasemissionen im Rahmen der CO₂-Lenkungsabgabe. EHS-Mitglieder bezahlen hingegen einen ständig wechselnden, massiv tieferen Preis pro Tonne und erhalten zu allem auch noch Gratiszertifikate. «Das ist eine Frage der Gerechtigkeit – vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass die Schweizer Privathaushalte ihre Emissionen während der letzten Handelsperiode um ein Drittel senken konnten.»
«Wir Bürger bezahlen mehr, wenn wir das Richtige tun wollen», meint die Journalistin. Wir würden für Hafer- mehr bezahlen als für Kuhmilch und fürs Zugticket mehr als für einen Flug. Im System EHS sei es hingegen eher so, dass man lediglich weniger verdiene, wenn man nicht das Richtige tue.
Alex Tiefenbacher glaubt trotzdem an eine Zukunft des Emissionshandelssystems in der Schweiz, wie sie erzählt. Neben der Schweiz und der EU haben auch beispielsweise Kanada oder Kalifornien Emissionshandelssysteme eingeführt. Für die Journalistin ist klar, dass es ein globales, zusammengeschlossenes System braucht, damit das EHS auch wirklich funktionieren kann. «Ich denke, es läuft darauf hinaus, dass die Systeme immer mehr wachsen, um dann zu fusionieren.» Es bräuchte einen Mindestpreis auf CO₂, meint sie. Diesen festzulegen, stelle jedoch bereits das nächste Problem dar, denn: «120 Franken haben in der Schweiz einen anderen Wert als beispielsweise in Nigeria.»
Eine mögliche Lösung bietet der CO₂-Grenzausgleich, welcher die Gratiszertifikate als Prävention für Carbon Leakage ablösen soll. Vergangenen Dezember hat die EU beschlossen, diesen per Oktober 2023 einzuführen. Anstatt zu schauen, dass ein Schweizer Stahlwerk dank Gratiszertifikaten gleich wenig für seine Emissionen bezahlen muss wie ein Stahlwerk in Indien, wird dabei die Logik umgedreht: Wenn ein indisches Stahlwerk in die Schweiz exportiert, muss es zusätzlich das bezahlen, was die Schweizer Konkurrenten im Rahmen des EHS bezahlen müssen. «So könnte man das Abwandern der Firmen verhindern und gleichzeitig ein Preissignal senden. Und: Man hätte sogar noch einen zusätzlichen Effekt, weil es sich demnach auch für Indien lohnen würde, einen Preis auf Emissionen einzuführen, weil sie ihn so schlussendlich sowieso bezahlen müssen.»
Mit dem CO₂-Grenzausgleich geht jedoch eine weitere Komplikation einher: die Frage des Protektionismus. Vom Grenzausgleich wäre auch der Globale Süden betroffen, der zumindest historisch gesehen selbst kaum zum Klimawandel beiträgt und durch diese Massnahme seinen Wettbewerbsvorteil des günstigen Produktionsstandorts verlieren würde. Es ist ausserdem wissenschaftlich umstritten, ob sich dieser Vorschlag überhaupt mit den Richtlinien der Welthandelsorganisation (WTO) vereinbaren liesse.
Auf EU-Ebene diskutiert die Politik rund um das Emissionshandelssystem, dies jedoch nicht in der Öffentlichkeit. Das ist für klimapolitische Angelegenheiten untypisch, findet Alex Tiefenbacher. Sie sagt, es sei wichtig, dass öffentlich thematisiert werde, wer wie viel für seine Emissionen bezahlen muss. Und dass die Schweiz klimafreundlichere Alternativen in allen Bereichen fördere. Zudem müssten Klima- und Sozialpolitik verknüpft werden. «Eine umweltfreundlichere Lebensweise ist teurer und wir werden mehr bezahlen müssen. Wir müssen unbedingt sicherstellen, dass sich das alle leisten können.»
Dafür müsse die Schere zwischen Arm und Reich geschlossen werden. «Sonst wird es unten immer jemanden geben, der – legitimerweise – schreit: ‹Aber ich kann mir das nicht leisten!› Wir müssen alle befähigen, sich ein klimaverträgliches Leben leisten zu können, sonst scheitern wir.»
Wer sich die genauen Zahlen, Beispiele von EHS-Firmen und viele weitere spannende Erkenntnisse ansehen will, kann auf daslamm.ch die achtteilige Artikel-Serie von Alex Tiefenbacher und Luca Mondgenast zum Thema durchlesen.
Niemand?
Dacht ich mir.
OK, man hat erkannt, dass Emissionshandelssysteme für Teilmärkte nicht funktionieren. Dann betreibt man trotzdem eines und sabotiert es, weil man die negativen Auswirkungen (Verlagerungen ins Ausland) nicht haben will. Was ist das denn für ein hirnloses Konstrukt?