Es ist der Knackpunkt der Anklage. Statt auf Sicher zu gehen und nur auf Veruntreuung zu zielen, hat die Staatsanwaltschaft Pierin Vincenz und Beat Stocker nämlich des gewerbsmässigen Betrugs angeklagt. Die Hürden für eine Verurteilung wegen Betrugs sind aber hoch. Die Anklage muss «Arglist» nachweisen. Und folglich zwingende Beweise liefern, dass sich Stocker und Vincenz verschworen hatten, um ihre Arbeitgeber Aduno und Raiffeisen zu betrügen.
Mit einer Tasche der Solothurner Firma Bally aus Schönenwerd kreuzte der beschuldigte Ex-Raiffeisen-Chef jeden Tag vor Gericht auf. Die Umhängetasche mit dem unverkennbaren rot-weissen Band ist offensichtlich ein treuer Begleiter von Pierin Vincenz. Bereits 2018 als die rasenden Reporter von «20 Minuten» Vincenz und dessen Anwalt vor der Staatsanwaltschaft überraschten, hatte Vincenz diese Tasche dabei.
Um die stand es bei Raiffeisen in der Ära Vincenz nicht zum Besten. So war zwischen 2005 und 2015 Nadja Ceregato Risikochefin der Raiffeisen. 2015 zog sie in die erweiterte Geschäftsleitung der Bank ein. Vincenz kannte sie bereits vom Studium, später wurde sie seine Ehefrau. Als Compliance-Chefin oblag ihr damals die Kontrolle über die Geschäfte ihres Ehemanns – keine Heldentat der guten Unternehmensführung.
Vincenz war aber stolz darauf: Für «Corporate-Governance-Freaks» sei das sicher nicht zulässig. Ihm gefalle aber, dass man das bei Raiffeisen noch mit gesundem Menschenverstand anschaue, sagte er 2013 dem «Magazin». Nach dem Abgang von Vincenz verliess auch Ceregato die Bank – eine Auflage der Finanzmarktaufsicht.
Es ist der erste fragwürdige Deal, bei welchen Pierin Vincenz und Beat Stocker zentrale Rollen auf beiden Seiten des Verhandlungstisches spielten: Als Aduno-Präsident und Aduno-CEO drückten die beiden den Kauf von Commtrain durch. Ohne dass jemand beim Finanzdienstleister Aduno wusste, dass Vincenz und Stocker an Commtrain beteiligt waren.
Als Verkäufer strebten sie einen möglichst hohen Verkaufspreis an, als Aduno-Vertreter hätten sie für einen möglichst tiefen sorgen müssen. Beim Deal, der 2007 abgewickelt wurde, verdienten die zwei Hauptbeschuldigten rund 2.7 Millionen Franken. Die mögliche Straftat würde dieses Jahr verjähren. In den nächsten 6 Jahren folgten drei weitere solcher Deals.
Der Stripclub befindet sich nur wenige Fussschritte vom Zürcher Volkshaus, wo Pierin Vincenz der Prozess gemacht wird, entfernt. Im «Egoist» liess Vincenz sich bei zwei Besuchen für über 4000 Franken verwöhnen. Insgesamt wirft die Staatsanwaltschaft dem Ex-Raiffeisen-CEO vor, bei seiner «Tour de Suisse durchs Rotlichtmilieu» über 200’000 Franken Geschäftsspesen verprasst zu haben.
Trotz der umfassenden Anklage und der gemachten Meinung in der Öffentlichkeit, viele Experten halten einen Freispruch für die beiden Hauptbeschuldigten für möglich. Die Hürden für eine Verurteilung in Sachen Wirtschaftskriminalität in der Schweiz sind hoch.
Kaum jemand wollte etwa verstehen, weshalb sämtliche Beschuldigten der Swissair, darunter Wirtschafts- und Politprominenz, nach deren Ende im Jahr 2001 freigesprochen wurden. Ebenso wenig Verständnis gab es dafür, dass nach der staatlichen Rettung der UBS im Jahr 2008 keine Strafverfahren eingeleitet wurden.
Das Bezirksgericht Zürich ist sicherlich nicht zu beneiden: Den «wichtigsten Wirtschaftsprozess» seit der juristischen Aufarbeitung des Swissair-Debakels im Jahr 2007 zu organisieren, ist eine Herkulesaufgabe – und das während der Pandemie und unter dem Druck der näherkommenden Verjährungsfrist.
Ob es aber wirklich unmöglich gewesen ist, den Prozess an einem Stück und immer am selben Ort durchzuführen, ist eine andere Frage. Die ersten Prozesstage fanden im Januar und Februar statt, zwar stets im Volkshaus, aber in drei verschiedenen Sälen. Am 8. und 9. März geht es nun weiter, danach folgen zwei weitere Prozesstage am 22. und 23. März.
Der Fall Vincenz hatte Auswirkungen auf zahlreiche andere Firmen, in welchen Pierin Vincenz engagiert war. Nachdem im Oktober 2017 die Finanzaufsicht Finma eine Untersuchung gegen Raiffeisen und deren Führung einleitete, gab Vincenz sein Amt als Verwaltungsratspräsident der Helvetia Versicherung ab. Auch bei Repower, Leonteq und Aduno trat er aus dem Verwaltungsrat aus.
Bei dieser Firmentransaktion handelt es sich um den finanziell grössten Brocken im Prozess. Investnet fusionierte mit einer Raiffeisen-Tochterfirma, dabei flossen Millionen. Was niemand wusste: Pierin Vincenz und Beat Stocker waren gemäss Staatsanwaltschaft heimlich an Investnet beteiligt und profitierten vom Deal.
Mitbeschuldigt sind auch Andreas Etter und Peter Wüst. Beide konnten zuerst nicht befragt werden. Etter war an Corona erkrankt, und Peter Wüst leidet an einer unheilbaren Erkrankung und ist nicht vernehmungsfähig – laut NZZ handelt es sich um Demenz. Die Staatsanwaltschaft verzichtet bei Wüst daher auch auf eine Strafforderung.
Der Staatsanwalt mit dem edlen Namen will Pierin Vincenz sechs Jahre hinter Gitter bringen. Vor Gericht überzeugte die Staatsanwaltschaft bei ihrem Plädoyer. Die mit vielen Details gespickte Anklage hat es in sich. Doch auch die Verteidigung der Beschuldigten, angeführt von Vincenz-Anwalt Lorenz Erni, konnte punkten. Erni kritisierte die Staatsanwaltschaft zudem scharf. Sie habe aufgrund der Medienberichterstattung voreingenommen ermittelt.
Da verdient ein Banker jahrelang Millionen und hat dennoch chronisch zu wenig Geld? Pierin Vincenz hat offenbar einen zu luxuriösen Lebensstil gepflegt. Er steht bei zahlreichen Prominenten in der Kreide. Etwa beim Zugunternehmer Peter Spuhler oder beim ehemaligen FC-St.-Gallen-Präsidenten Dölf Früh. Auch seinem Compagnon und Mitbeschuldigten Beat Stocker soll er mehrere Millionen schulden. Die Staatsanwaltschaft behauptet jedoch, das seien keine Darlehen, sondern die Gewinnbeteiligung aus den Firmendeals.
Sieben Stunden lang dauerte das Plädoyer der Staatsanwaltschaft. Kein Wunder bei dieser langen Anklageschrift: Sie zählt 356 Seiten.
Die erste Prozesswoche war eine männliche Angelegenheit. Alle Redner – Richter, Anwälte, Beschuldigte – waren Männer. Auch 90 Prozent der Medienschaffenden im Gerichtssaal waren Männer. Nur einmal kam eine Frau während des Verfahrens zu Wort: die Simultanübersetzerin für Stéphane Barbier-Mueller, den Genfer Beschuldigten.
Im Appenzellischen Niederteufen ist der Wohnsitz von Pierin Vincenz. Er hat sich dort ein Haus gekauft – 10 Millionen Franken soll es gekostet haben. Wegen finanzieller Probleme muss er es nun aber verkaufen. Es ist nicht die einzige luxuriöse Liegenschaft von Vincenz, die dieser nicht mehr halten kann. Gemäss zuverlässigen Informationen wird auch sein Ferienhaus in Morcote (Tessin) veräussert.
Dieses soll Transparenz garantieren. Früher waren Verhandlungen geheim und das führte dazu, dass das Volk der Justiz misstraute. Die Idee der Öffentlichkeit der Verhandlungen ist, dass das «Volk» direkt – oder indirekt über Gerichtsberichterstattung der Medien – die Möglichkeit haben soll, zu sehen, wie die Justiz funktioniert und vor allem auch, dass sie funktioniert. Es soll so verhindert werden, dass Schummeleien und Mauscheleien passieren.
Pierin Vincenz und Beat Stocker verband eine enge berufliche Partnerschaft. Über ein Jahrzehnt haben sie gemeinsam Geschäfte gemacht. Heute hätten sie nur noch «sporadisch» miteinander Kontakt, sagte Vincenz vor Gericht. Die beiden Geschäftsmänner scheinen aber keinen Groll gegeneinander zu hegen: Die eine oder andere Prozesspausen nutzten sie für einen kurzen Schwatz.
Als Beat Stocker 2018 von der Staatsanwaltschaft einvernommen wurde, telefonierte der Mitbeschuldigte Stéphane Barbier-Mueller mit seiner Frau. Dabei bezeichnete er die Verteidigungsstrategie von Beat Stocker als «Quatsch». Er habe Papiere, die das Gegenteil beweisen würden.
Was er nicht wusste: Längst hatte die Staatsanwaltschaft sein Telefon angezapft und hörte munter mit. Damit machte er Stocker einen dicken Strich durch die Rechnung. Die Strafverfolger setzten, kurz bevor Vincenz und Stocker in Untersuchungshaft genommen wurden, auf Telefonüberwachung. Aktenkundig sind rund dreissig Telefongespräche, welche die Polizei mithörte.
Die ehemalige Arbeitgeberin verfolgt den Prozess gegen den früheren CEO nicht von der Hinterbank aus. Wie Aduno hat auch Raiffeisen eine sogenannte Adhäsionsklage eingereicht. Damit wollen die mutmasslich geschädigten Firmen ihre Geldforderungen direkt in den Strafprozess integrieren.
Das Vorgehen ist nicht der Standard. In der Regel warten Privatkläger ein Strafurteil ab und klären Finanzielles im Anschluss auf dem Zivilweg. Mit einer Adhäsionsklage vermeidet man, einen zweiten Prozess führen zu müssen. Der Grund dürfte die fehlende Zeit sein: Die Verjährung rückt beim Commtrain-Deal immer näher.
Für Vincenz und Stocker fordert die Staatsanwaltschaft eine Freiheitsstrafe von sechs Jahren – unbedingt. Zudem sollen sie ihre Gewinne den angeblich geschädigten Firmen zurückerstatten. Bei Vincenz wären das neun Millionen Franken, bei Stocker rund 16 Millionen. Hinzu kommt die Übernahme der Untersuchungskosten von je 120'000 Franken.
Interessiert der Prozess die Medien und die Leute so stark, weil Volksbanker Vincenz das Volk hinters Licht geführt hat oder weil die Vorwürfe gegen Pierin Vincenz neben Crime auch viel Sex enthalten? Die Anklageschrift ist auf jeden Fall gespickt mit pikanten Details. Unter anderem auch mit einem Tinderdate von Vincenz, bei welchem er seine Geschäftskreditkarte benutzt hat.
Der Beschuldigte gab vor Gericht an, dass es sich beim Tinderdate im noblen Restaurant Storchen in Zürich (Kostenpunkt: 700 Franken, bezahlt mit Raiffeisenkreditkarte) um ein Bewerbungsgespräch gehandelt habe. Richter Sebastian Aeppli fragte ungläubig: «Ist es normal, dass eine Schweizer Grossbank via Tinder Personal rekrutiert?!»
Da der Commtrain-Fall, wo sich Vincenz und Stocker um Millionen bereichert haben sollen, bereits im April zu verjähren droht, rechnen die Experten noch mit einem Urteil im März. Der Zeitplan ist zwar eng, dem Gericht liegen aber sämtliche Unterlagen schon länger vor. Die Befragungen und Plädoyers sind mehr Kür als Pflicht.
Doch egal welche Seite vor dem Bezirksgericht am Ende gewinnt, das letzte Wort ist damit noch längst nicht gesprochen. Eine Berufung ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Staatsanwaltschaft und Verteidigung können das Urteil erst ans Zürcher Obergericht, danach auch noch ans Bundesgericht weiterziehen.
Egal ob Pierin Vincenz verurteil oder freigesprochen wird, das moralische Urteil über den früheren Raiffeisenchef ist längst gefallen. Er hat die Maximalstrafe erhalten. In den vergangenen sechs Jahren war Vincenz einer Vorverurteilung ausgesetzt. Darauf baute Lorenz Erni seine Verteidigung denn auch auf. Der Vincenz-Anwalt verlangte neben dem Freispruch aufgrund der auch eine Genugtuung für seinen Klienten. Im Falle einer Verurteilung dürfte Vincenz wohl eine Strafmilderung erhalten.
Imagemässig hat die Vincenz-Affäre Raiffeisen stark geschadet. Wirtschaftlich hingegen hat sich die Bank trotz der Querelen um den Ex-CEO und den darauffolgenden Aufräumarbeiten stark entwickelt. Zwar musste Raiffeisen im Geschäftsjahr 2018 einen deutlichen Gewinnrückgang hinnehmen. Ein wesentlicher Grund dafür waren Wertberichtigungen auf Beteiligungen aus der Vincenz-Ära. Fast jede zweite Person in der Schweiz ist Kunde von Raiffeisen, jedes dritte KMU setzt auf die Genossenschaftsbank.
Gemäss Staatsanwaltschaft hat Pierin Vincenz das Cabaret Kings Club in Zürich «x-mal» besucht. Jedes Mal hat der Ex-Raiffeisen-Chef mit der Firmenkreditkarte bezahlt. Damit dies bei der Spesenabrechnung nicht auffiel, hat Vincenz nicht den Namen des Stripclubs aufgeschrieben, sondern ihn als «Börse – Restaurationsbetrieb, Zürich» aufgeführt.
Johannes Rüegg-Stürm, der damalige Raiffeisenpräsident, brachte diese Bezeichnung mit einem Restaurant im Gebäude der alten Börse in Verbindung. Andere nichtssagende Bezeichnungen lauteten «Nightway SA», «Davaj GmbH» oder «S + CO.». Auf den von Johannes Rüegg-Stürm visierten Kreditkartenabrechnungen am eindeutigsten war in dieser Hinsicht die Bezeichnung «Cecildance SA».
Der Verwaltungsrat, der Pierin Vincenz eigentlich hätte beaufsichtigen sollen, war ein Abnickergremium. Vincenz hat die Verwaltungsräte ohne Probleme an die Wand gespielt. Der ehemalige Präsident Johannes Rüegg-Stürm winkte die exorbitanten Spesen stets durch. In der Aufarbeitung der Affäre kam es zum grossen Sesselrücken im Strategiegremium der Raiffeisen.
Die ersten Prozesstage waren gespickt mit spannenden Aussagen der Protagonisten. «Ich habe nicht das Gefühl, etwas Kriminelles getan zu haben», sagte Pierin Vincenz. Und: «Ich fühle mich unschuldig», so der frühere Raiffeisen-Chef. «Darf ich ehrlich sein?», fragte der andere Hauptbeschuldigte Beat Stocker in den Saal. Eine interessante Frage, wenn man vor einem Gericht steht.
Gar martialisch trat der Mitbeschuldigte Stéphane Barbier-Mueller auf: «Waschen Sie meine Ehre rein von diesen unerhörten Anschuldigungen der Staatsanwaltschaft.» Und auf die Frage, was er zum Einzug seiner Vermögenswerte sagen würde: «Das wäre Diebstahl!» (saw/aargauerzeitung.ch)
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Und jeder der sich über diesen Umstand aufregt aber bürgerlich wählt kann sich selber an die Nase fassen. Genau das meinen diese Parteien nämlich wenn sie sich "wirtschaftsfreundlichen" nennen.