Im Bekanntenkreis von Pierin Vincenz, dem gefallenen ehemaligen Spitzenbanker, rätselt man: Wie ist es möglich, über Jahre einen CEO-Lohn zu kassieren und dennoch Liquiditätsprobleme zu bekommen?
Vincenz war Raiffeisen-Chef von 1999 bis 2015 und bezog Jahresvergütungen von anfänglich zwei, später drei und dann vier Millionen Franken. Insgesamt mehr als 40 Millionen Franken dürften dabei geflossen sein. Selbst wenn 10 bis 15 Millionen davon als Steuern weggegangen sind, bleibt eine Summe, die eigentlich ein sorgenfreies Leben garantieren sollte.
Nicht so bei Pierin Vincenz, der im vergangenen Jahr in aller Stille seinen 65. Geburtstag feierte. Er kann jetzt jeden Franken brauchen - auch die AHV-Rente, auf die er nun Anspruch hat.
Denn Vincenz steht bei mehreren Freunden - oder ehemaligen Freunden - in der Kreide. Nicht nur bei seinem ehemaligen Geschäftspartner Beat Stocker, der ab 25. Januar wie Vincenz vor Gericht kommt und der in einem Interview mit der «NZZ am Sonntag» sagte, «insgesamt schuldet er mir heute fast 6 Millionen Franken».
CH-Media-Recherchen zeigen: Vincenz hat auch seinen ehemaligen Studien- und Militärkollegen Peter Spuhler «angepumpt». Der Chef von Stadler und ehemalige SVP-Nationalrat lieh Vincenz die sagenhafte Summe von 6.5 Millionen Franken.
Bei diesem Darlehen geht es um die Ablösung einer Hypothek auf Vincenz' Haus in Teufen AR nach dem Abgang von Vincenz als Raiffeisenchef 2015. Damals waren die juristischen Probleme von Vincenz noch nicht bekannt. Spuhler war nicht bewusst, dass der eben zurückgetretene Bankchef derartige Geldprobleme haben könnte, dass er das Darlehen nicht fristgerecht zurückzahlen würde.
Vincenz hat die Millionen bis heute nicht zurückbezahlt. Doch Spuhler will das Geld zurück. In den nächsten drei Monaten soll darum das Haus in Teufen verkauft werden - durch einen Immobilienmakler.
Auf Anfrage bestätigt Peter Spuhler den Sachverhalt, ohne sich weiter dazu zu äussern. Der Verkauf der Liegenschaft musste aufgrund mehrerer laufender Verfahren gegen Vincenz offenbar mit der Staatsanwaltschaft besprochen werden.
Das Haus in Teufen, das ursprünglich 10 Millionen Franken gekostet haben soll, ist nicht die einzige luxuriöse Liegenschaft von Vincenz, die dieser nicht mehr halten kann. Gemäss zuverlässigen Informationen wird auch sein Ferienhaus in Morcote (Tessin) veräussert.
Dieses Haus finanzierte Vincenz ebenfalls auf Pump. Hier bat er nicht Spuhler, sondern einen anderen Ostschweizer Unternehmer um einen Kredit, Dölf Früh, den ehemaligen Präsidenten des FC St. Gallen. Dessen Darlehen ist beträchtlich: 4.3 Millionen Franken beträgt es, durch den Verkauf des Ferienhauses soll es zurückbezahlt werden.
Zurück zur Frage: Wie kann ein Top-Banker in derartige Geldnöte geraten? Vincenz' Ex-Geschäftspartner und Mitangeklagte Beat Stocker hatte darauf im erwähnten Interview keine schlüssigen Antworten bereit, er sagte bloss, er habe erst im Verlauf der letzten vier Jahre erfahren, wie gross die Liquiditätsprobleme von Vincenz wirklich gewesen seien. Allerdings habe ihn Vincenz schon im Juni 2014 nach einer «privaten Angelegenheit im Zürcher Hotel Park Hyatt» am Abend aufgelöst angerufen und gesagt: «Ich brauche sofort eine Million. Es ist etwas passiert. Frag nicht nach, ich brauche das Geld dringend, und ich brauche es cash.» Stocker gewährte den Kredit.
In dem Interview ging er auf Distanz zu Vincenz, naheliegenderweise aus prozesstaktischen Gründen. Jahrelang hatte er aber mit ihm Geschäfte gemacht.
Die prekäre finanzielle Situation von Vincenz ist insofern relevant, als er angeklagt ist wegen gewerbsmässigen Betrugs und Veruntreuung. Er soll sich bei Firmenkäufen privat bereichert haben, wirft ihm die Staatsanwaltschaft vor. Inwiefern seine offenbar notorischen Liquiditätsprobleme dabei eine Rolle gespielt haben und ob wirklich alle Straftatbestände erfüllt sind, darüber wird das Gericht ab dem 25. Januar befinden.
Und offenbar hat er noch genug Einkommen, dass er nicht auf der Strasse leben muss. Und Geld genug hat er sicher auch, um sich gutes Essen zu kaufen.
Also, wo liegt das Problem?
Ihm täte gut einen Monat mit den Basler Obdachlosen ohne Einkommen zu leben. So kann er nachher vielleicht erahnen, was man wirklich zum leben braucht.